Ein Kind mit Cochlea-Implantat sitzt in einem medizinischen Untersuchungsraum, im Hintergrund ist eine Pflegekraft am Computer zu sehen.

„Der Weg zum Herzen eines Menschen geht über das Ohr“

Dr. Veronika Wolter ist Oberärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (HNO), seit ihrem 9. Lebensjahr ertaubt und trägt Cochlea-Implantate. Sie berichtet über ihren Werdegang und möchte andere ermutigen, sich mit Gehörlosigkeit auseinanderzusetzen.

ZB: Frau Dr. Wolter, vor etwa einem Jahr ist Ihr Buch „Ich höre dich“ erschienen. Was hat Sie denn bewogen, ein Buch zu schreiben?

Dr. Wolter: Das Buch beschreibt die Sicht einer Betroffenen, die Fachärztin ihrer eigenen Erkrankung und Behinderung geworden ist. Ich erkläre darin, wie sich meine Behinderung anfühlt und wie es sich auswirkt, mit einer Behinderung zu leben, die für Außenstehende ja erst mal unsichtbar ist.

Mit dem Buch versuche ich, Aufmerksamkeit auf das Thema Gehörlosigkeit zu lenken und auch deutlich zu machen, dass Hörverlust und Gehörlosigkeit nicht wenige Menschen betreffen. Es ist heute leider so, dass jeder vierte Jugendliche kein altersgerechtes Gehör mehr hat, das muss man sich mal vorstellen. Es gibt über eine Million Menschen, die so schlecht hören, dass sie Cochlea-Implantate brauchen. Das sind erhebliche Zahlen und gleichzeitig wissen viele immer noch nicht, was ein Cochlea-Implantat überhaupt ist oder was es kann. Mir ging es darum, an meinem eigenen Beispiel zu zeigen, wie es ist, wenn man nicht hört, welche Auswirkungen daraus entstehen und vor allen Dingen was man tun kann!

Ihre persönliche Geschichte ist sehr beeindruckend, Sie sind selbst in jungen Jahren ertaubt und mittlerweile Oberärztin für HNO.

Ja, bei mir war die Besonderheit, dass ich hörend auf die Welt kam und dann Glück im Unglück hatte, weil die Hörreifung bei mir schon abgeschlossen war, als ich meinen Hörschaden erlitt. Trotzdem war es dramatisch, mit neun Jahren zunächst mittel- bis hochgradig schwerhörig und auf Hörgeräte angewiesen zu sein.

Wenn Menschen nicht sehen, werden sie von Dingen getrennt; wenn sie nicht laufen können, von ihrer Umwelt. Wer nicht hören kann, wird von den Menschen im Umfeld getrennt, weil Kommunikation vor allem über Sprache läuft. Das kann unglaublich verletzend sein. Der Weg zum Herzen eines Menschen geht über das Ohr und das ist kaputt, das muss man sich klarmachen.

Als ich meinen Hörverlust erlitt, gab es auch noch keine Inklusion im heutigen Sinne. Es gab behinderungsgerechte Einrichtungen und es gab eben „normale“ Menschen. Als Kind war da für mich immer diese Drohgebärde, von und aus der „normalen“ Welt aussortiert zu werden. Ich habe mich dann durchgekämpft, auch dank meines Cochlea-Implantates, das mir später eingesetzt wurde.

Was ist ein Cochlea-Implantat, einfach gesagt?

Grob skizziert muss man sich die Hörschnecke vorstellen wie einen kleinen, flüssigkeitsgefüllten Ballon mit Härchen darin. Wenn die Härchen oder der Ballon geschädigt sind, kann das bis zu einem gewissen Grad mit einem Hörgerät ausgeglichen werden. Nutzer stellen also den Ton einfach lauter. Wenn aber die Hörschnecke und die Härchen so weit geschädigt sind, dass auch ein Hörgerät es nicht mehr vernünftig ausgleichen kann, dann kommen Cochlea-Implantate zum Einsatz. Die Haarsinneszellen sind Nervenzellen und werden durch Neuroprothesen ersetzt, die in der Cochlea eingesetzt werden. Das ist ein sehr kleines, etwa einen Zentimeter großes Organ oberhalb des Ohrs. In der gesamten Medizin gibt es keine auch nur annähernd vergleichbar gut funktionierende Neuroprothese wie das Cochlea-Implantat.

Die Implantate sind dann wie neue Sinnesorgane. Ein Hörgerät im Gegenzug ist nur ein Hilfsmittel. Das sind also zwei völlig unterschiedliche Mechanismen, die auch völlig unterschiedlich funktionieren. Wenn ein Cochlea-Implantat richtig eingesetzt wird, kann der Hörerfolg riesig sein. Wenn man alles richtig gemacht hat, dann hört der Patient am Ende hoffentlich wieder so wie ich, nämlich fast normal. 

Mit dem Implantat muss man das Hören quasi wieder neu erlernen. Wie kann man sich diesen Prozess vorstellen, wie lange dauert er und wie wird dieser begleitet? 

Ich finde den Begriff „Hören lernen“ immer etwas schwierig. Man geht davon aus, das Hören sei etwas, was man wie eine Fremdsprache erlernen müsse. Den Vergleich finde ich nicht treffend. Für die meisten meiner Patienten ist es eher ein Gewöhnungsprozess und dieser Gewöhnungsprozess braucht Unterstützung. Ich bin sehr froh und stolz, dass wir hier in der Klinik ein sehr umfassendes Konzept haben. Wir sind eine operierende Akutklinik, die ein integriertes Versorgungskonzept mit einer ambulanten Rehabilitation anbietet. Das heißt, der Patient wird bei uns diagnostiziert, operiert und lebenslang nachversorgt, und zwar alles komplett aus einer Hand. Das halte ich tatsächlich für die beste Versorgungsmöglichkeit.

Sie haben einen sehr positiven und sehr lösungsorientierten Umgang mit Ihrer Einschränkung gefunden. Was würden Sie denn anderen Betroffenen raten? 

Sie brauchen Durchhaltevermögen. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Eigenschaft, gerade in Bezug auf die Cochlea-Implantate. Viele meiner Patienten kommen erst für ein Cochlea-Implantat, wenn sie schon eine lange, tragische Leidensgeschichte durchlebt haben. Deshalb ist auch Kampfgeist wichtig. Der Titel meines Buches ist ja „Ich höre dich“, aber mein Leben lang habe ich eigentlich gesagt: „Ich will dich hören, ich will das!“ Viele Jahre ist mir auch immer nur gesagt worden, dass es nichts gibt, was man tun kann. Nervenzellen kaputt, Ende aus. Das stimmt ja einfach nicht.

Deshalb ermuntere ich jede und jeden, nach Lösungen zu suchen, sich optimal behandeln zu lassen. Und wenn dieser Weg ausgereizt ist, ist es wichtig zu lernen, bestmöglich mit einer Einschränkung umzugehen. Auch das ist Teil unserer ambulanten Reha. Betroffene lernen: Wie gehe ich damit um, anders oder weniger zu hören, wie bringe ich das den anderen bei, was muss ich kommunizieren, welche akustischen Gegebenheiten brauche ich, und so weiter. 

„Die anderen“, das ist ein gutes Stichwort. Was kann denn das Umfeld tun, zum Beispiel auch am Arbeitsplatz?

Zunächst mal müssen Betroffene wissen, was sie selbst brauchen und es dann an ihr Umfeld kommunizieren. Nur so kann das Umfeld reagieren. Bei mir war es beispielsweise so, dass es im OP manchmal schwierig war. Da geht viel über das Gehör: Patienten müssen abgehört werden, der Anästhesist gibt Infos, es wird die ganze Zeit kommuniziert. Alle Personen im OP tragen gleichzeitig jedoch Mundschutz, es gibt also kein Mundbild und die gesprochenen Worte sind nicht so deutlich zu hören. Das war für mich in der Facharztausbildung manchmal schwierig. Mein Vorgesetzter hat dann damals auf meinen Vorschlag hin über ein Headset und Mikro mit mir gesprochen, sodass ich ihn besser verstehen konnte. Das setzte aber voraus, dass ich meine Schwierigkeiten kommuniziert habe. Und natürlich auch, dass alle bereit sind, lösungsorientiert Schwierigkeiten anzugehen.

Mit meinem damaligen Chef hatte ich auch einfach Glück gehabt, denn er hat erkannt, dass da nicht eine Frau mit einer Behinderung steht, sondern eine engagierte Ärztin. Und er war bereit zu lernen, damit umzugehen.

Haben Sie noch weitere gehörlose Menschen bei sich im Team?

Ja klar! Unser therapeutischer Leiter ist beispielsweise gehörlos, ein Facharzt hat Hörgeräte, um nur einige zu nennen. So lernt das ganze Team miteinander, wie man mit solchen Einschränkungen umgeht, Rücksicht nimmt. Ich glaube, dass an solchen Situationen auch eine ganze Firma oder sogar Gesellschaft wachsen kann!

Deshalb ist mein Appell, hinzugucken und nicht gleich zu denken: Da ist jemand dumm oder hat nicht aufgepasst. Es hilft, sich klarzumachen, dass der oder die es vielleicht einfach nicht gehört hat!

Gehörlos, ertaubt, hörgeschädigt?

Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Abstufungen der Hörbehinderung sollte man kennen

1.

Als gehörlos bezeichnet man Menschen, die von Geburt an oder vor Abschluss des Lautspracherwerbs (meist bis zum 5. Lebensjahr) ihr Gehör verloren haben. Sie sind meist in der Kommunikation visuell orientiert (Gebärdensprache). Durch Cochlea-Implantate ändert sich dies jedoch.

2.

Schwerhörige Menschen bzw. Menschen mit Hörschädigung sind meist hörend sozialisiert und in der Kommunikation akustisch orientiert. Je nach Hörverlust werden unterschiedliche Grade der Schwerhörigkeit ausgewiesen – von geringgradig bis an Taubheit grenzend. Außerdem wird nach dem Eintritt der Schädigung unterschieden: prä- und postlingual, also vor und nach dem Spracherwerb.

3.

Als ertaubt bezeichnet man Menschen, deren Hörschädigung so stark ist, dass das Hören von Sprache auch mit Hörgeräten nicht möglich ist. Die Ertaubung ist nach Abschluss des Lautspracherwerbs eingetreten. Ertaubte Menschen sind daher in der Regel vollsprachlich und kommunikativ akustisch orientiert.

Was sind Cochlea-Implantate?

Ein Cochlea-Implantat (CI) ist eine Neuroprothese, die Menschen mit schwerem bis vollständigem Hörverlust dabei hilft, wieder Töne wahrzunehmen. Es besteht aus einem externen Teil, der hinter dem Ohr getragen wird, und einem internen Teil, der chirurgisch unter die Haut und in die Cochlea (Hörschnecke) im Innenohr eingesetzt wird. Das Implantat wandelt Schall in elektrische Signale um, die direkt an den Hörnerv weitergeleitet werden und somit das natürliche Hören ersetzen.

Im Dezember 2019 gab es weltweit rund 736.900 CI-Träger. Besonders bei hochgradig schwerhörenden oder gehörlosen Kleinkindern ist heute die CI-Versorgung Standard. Im Vergleich zur Hörgeräteversorgung sind Hör- und Spracherwerbsleistung bei CI überragend, wenn vor dem zweiten Lebensjahr bereits ein CI eingesetzt wird.

Zur Interviewten

Dr. med. Veronika Wolter ist Chefärztin der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Helios Klinikum München West und der Helios Hörklinik Oberbayern.

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