Arbeitgeber: Gut beraten
Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels spielen gut qualifizierte Menschen mit Behinderung eine wichtige Rolle. Arbeitgeber erhalten für ihre Beschäftigung Förderleistungen der Integrationsämter – individuell und unkompliziert. Eine physiotherapeutische Praxis in Chemnitz hat damit gute Erfahrungen gemacht.
Donnerstagmittag, Punkt halb eins. Im Chemnitzer Physiotherapiezentrum Markthalle kommt das Team zur wöchentlichen Dienstberatung zusammen. Doch außer den Therapeuten und Verwaltungsangestellten sitzt auch eine Gebärdendolmetscherin im Raum. Mit schnellen, sicheren Gesten übersetzt sie alles, was gesagt wird, in die Gebärdensprache – damit Susanne Erler am Gespräch teilnehmen kann. Die gehörlose Physiotherapeutin arbeitet seit März 2022 in der Praxis, in der Menschen mit Behinderung ganz selbstverständlich dazugehören.
Langjähriger Kontakt zum Integrationsamt
Dass dies so vorbildlich funktioniert, liegt nicht nur an den gut qualifizierten, engagierten Fachkräften und der Offenheit von Cathleen Kaltofen, seit über 20 Jahren leitende Physiotherapeutin im Physiotherapiezentrum, sondern auch an der Unterstützung durch das Integrationsamt. „Der Kontakt zum Physiotherapiezentrum besteht seit vielen Jahren“, erzählt die zuständige Sachbearbeiterin Ingrid Wollschläger vom Kommunalen Sozialverband Sachsen. Denn vier der 15 Beschäftigten sind sehbehindert, mit Susanne Erler kam nun erstmals eine Kollegin mit Hörbehinderung hinzu. „Davor hatten wir erst einmal Respekt“, erinnert sich Cathleen Kaltofen, die das Team zunächst von der neuen Situation überzeugen musste. „Aber die anfänglichen Vorbehalte haben sich schnell aufgelöst.“ Dazu hat unter anderem ein sogenanntes Kollegenseminar beigetragen (siehe Kasten), in dem sie an zwei Tagen nicht nur Hintergründe zur Gehörlosigkeit erfuhren, sondern auch Grundlagen der Gebärdensprache lernten.
„Die Gebärdendolmetscherin ist eine große Hilfe im Arbeitsalltag.“
Teamwork der besonderen Art
Susanne Erler freut sich darüber. Sie fühlt sich ausgesprochen wohl im Team, liebt ihre Arbeit und lobt den Umgang untereinander, der insbesondere zu den Kollegen mit Sehbehinderung gelegentlich eine Herausforderung darstellt. Denn am wichtigsten in der Kommunikation sei für sie natürlich der Blickkontakt, erklärt die 36-jährige Mutter zweier kleiner Kinder. Doch nach anfänglichen Berührungsängsten war allen klar: „Man kann mich gerne auch mal an der Schulter berühren, wenn ich nicht reagiere.“ Auch die Verwaltungsangestellten denken mit, übersetzen Gesprochenes oder informieren Susanne Erler mit einfachen Gebärden zum Beispiel über kurzfristige Terminänderungen oder Besonderheiten bei Patienten. Umgekehrt machen sie die sehbehinderten Kolleginnen und Kollegen darauf aufmerksam, wenn ihnen eine Geste von Susanne Erler entgangen ist.
Handzeichen und Hilfsmittel
Auch beim Umgang mit Patientinnen und Patienten ist es wichtig, einige Regeln einzuhalten, dafür seien sie aber alle sensibilisiert, erzählt Cathleen Kaltofen. „Damit die sehbehinderten Therapeuten sich zurechtfinden, müssen die Behandlungsräume alle gleich eingerichtet sein und zum Beispiel die Stühle immer an derselben Stelle stehen“, erläutert die Vorgesetzte. Wird jemand von Susanne Erler zum ersten Mal behandelt, stellt sie sich selbst vor. Denn die Physiotherapeutin trägt ein Cochlea-Implantat, verfügt über Resthörvermögen, kann von den Lippen ablesen und sprechen. Probleme gibt es also selten. „Außer, die Patienten liegen auf dem Bauch und wollen sich unterhalten“, sagt sie schmunzelnd. „Dann verstehe ich natürlich nichts.“ Anhand der Mimik und vorab vereinbarter Handzeichen stellt Susanne Erler fest, ob eine Behandlung guttut oder etwas schmerzt. Zusätzliche Unterstützung bietet seit Kurzem ein Hilfsmittel, auf das der Technische Beratungsdienst des Integrationsamtes hingewiesen hatte. Dabei handelt es sich um ein System bestehend aus einem Mikrofon, das Sprache in Schrift übersetzt und auf ein Tablet überträgt.
Dabei sind es nicht nur die sichtbaren Leistungen wie Hilfsmittel und Seminare, mit denen das Integrationsamt das Physiotherapiezentrum bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung unterstützt. „Frau Wollschläger ist immer unser Erstkontakt“, berichtet Doreen Hänel, Personalverantwortliche und Inklusionsbeauftragte der Poliklinik gGmbH Chemnitz, zu der das Zentrum an der Markthalle gehört. „Sie hilft bei der Antragstellung, erinnert an Fristen und Termine und informiert uns über Neuerungen.“ Nachdem sich vor etwa 20 Jahren erst einmal alles einspielen musste, seien Förderung und Sicherung der Arbeitsverhältnisse nun „ein Selbstläufer“, so die Personalverantwortliche. Regelmäßig tauscht sie sich mit Cathleen Kaltofen aus. Die Termine beim Integrationsamt nehmen sie gemeinsam wahr – oder die Mitarbeitenden des Integrationsfachdienstes und des Technischen Beratungsdienstes kommen vorbei, um sich ein Bild vor Ort zu machen.
Gemeinsam Lösungen finden
Auch Ingrid Wollschläger beschreibt die Zusammenarbeit als unkompliziert. Die Einstellung einer höreingeschränkten Mitarbeiterin bezeichnet sie als „Herausforderung für das gesamte Team“, die man aber gut gemeistert habe. Und die Begleitung höre mit der Einstellung schließlich nicht auf, sondern laufe weiter, so die Sachbearbeiterin: „Gibt es Fragen, suchen wir immer gemeinsam nach Lösungen.“ Sie weiß: „Funktioniert ein solches Arbeitsverhältnis erst einmal, stehen die Arbeitgeber der Beschäftigung weiterer Menschen mit Behinderung aufgeschlossen gegenüber.“ Auch wenn eine Schwerbehinderung während eines bestehenden Arbeitsverhältnisses eintritt, rät sie Arbeitgebern, sich beim Integrationsamt über konkrete Unterstützungsmöglichkeiten, Rechte, Pflichten und vieles mehr zu informieren.
Planungssicherheit in Zeiten des Fachkräftemangels
Und dafür gibt es handfeste Gründe: So schätzen Doreen Hänel und Cathleen Kaltofen an den Mitarbeitenden mit Behinderung neben guter fachlicher Qualifikation deren Zuverlässigkeit und Beständigkeit. „Ein Kollege ist schon seit 35 Jahren dabei“, freut sich Physiotherapeutin Kaltofen. Planungssicherheit – ein wichtiger Faktor in Zeiten des Fachkräftemangels. Auch wenn damit die ein oder andere Herausforderung verbunden sei, wie moderierendes Eingreifen in Dienstbesprechungen, damit nicht alle durcheinandersprechen. Eine Auffrischung des Kollegenseminars sei daher schon angedacht.
„Ohne die Gebärdendolmetscherin würde es aber nicht gehen“, glaubt Susanne Erler, die auch bei einer kürzlich absolvierten Weiterbildungsmaßnahme von einer Gebärdendolmetscherin unterstützt wurde. Das war nötig, weil die gewünschte Weiterbildung nicht extra für gehörlose Teilnehmer angeboten wurde. Die Kosten für die Gebärdendolmetscherin trug in diesem Fall ebenfalls das Integrationsamt und ermöglichte Susanne Erler so die Teilnahme.
Nutzen übersteigt Aufwand
30 Stunden beträgt Susanne Erlers Wochenarbeitszeit in der Praxis. Davon sind 30 Minuten pro Tag als sogenannte Schreibzeit vorgesehen, in der sie zum Beispiel Befunde und Dokumentationen im Computer erfasst. Eine Tätigkeit, die normalerweise während der Behandlungstermine stattfindet, was für sie problematisch ist. Natürlich bedeute das, ebenso wie das Dolmetschen, einen gewissen zeitlichen Aufwand, räumt Cathleen Kaltofen ein. Der planerische Mehraufwand wird dem Arbeitgeber durch den Beschäftigungssicherungszuschuss finanziell ausgeglichen. Und ohnehin überwiegt der Nutzen, den Susanne Erlers Arbeitskraft der Praxis bringt: „Wir sind froh, dass wir sie haben.“
Diese Förderungen wurden gewährt
Die Poliklinik gGmbH Chemnitz erhielt seit 2022 folgende Förderungen vom Integrationsamt:
Kollegenseminare erleichtern das Miteinander im Team
Ein sogenanntes Kollegenseminar soll unter fachlicher Anleitung die Zusammenarbeit in Teams erleichtern, in denen Menschen mit Behinderung beschäftigt sind. Dazu gehören zunächst Informationen zur spezifischen Funktionsbeeinträchtigung und zu ihren Auswirkungen. Im Chemnitzer Physiotherapiezentrum beinhaltete das die Besonderheiten in der Kommunikation mit gehörlosen Menschen sowie praktische Tipps zu Verständigungsmöglichkeiten und zum sicheren Umgang und Miteinander. Die Kosten für Kollegenseminare übernimmt das Integrationsamt nach § 27, Abs. 2 SchwbAV.
Bildergalerie
Weitere Artikel dieser Ausgabe
- Editorial von BIH-Vorstandsvorsitzendem Christoph Beyer
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