Aussichtsreiche Perspektiven
Andrea Winnerl arbeitet seit mehr als 30 Jahren bei der Fraport AG, dem Betreiber des Frankfurter Flughafens. Die blinde Frau hat sich im Job immer wieder neue Herausforderungen gesucht – und auch dank der Unterstützung des Integrationsamts – erfolgreich gemeistert. Nun hat sie wieder ein Ziel …
„Auf meinem linken Auge sehe ich nur noch grauen Fernsehgriesel. In etwa so, wie früher nach Sendeschluss“, schildert Andrea Winnerl. Auf dem rechten Auge ist die 54-Jährige komplett blind. Ob das Licht an oder aus ist, könne sie nicht erkennen. Winnerl ist von Geburt an hochgradig sehbehindert. Der Grund: In den 1960er Jahren wurde in den Inkubatoren (Brutkasten für Frühgeborene) die Sauerstoffzufuhr noch händisch eingestellt. „Ich habe zu viel Sauerstoff in die Augen bekommen, so dass der Sehnerv und die Netzhaut geschädigt wurde - das erzählten jedenfalls die Ärzte“, berichtet die Frankfurterin. Sie habe dann bis 2008 mit einem Sehrest von weniger als zwei Prozent gelebt. Durch eine Netzhautablösung im gleichen Jahr habe sie dann komplett ihr Augenlicht verloren.
Ihr Abitur machte Winnerl in den 1980er Jahren bei der BLISTA im hessischen Marburg. BLISTA steht für Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. und ist eine auf die speziellen Bedürfnisse von blinden und sehbehinderten Menschen ausgerichtete Bildungseinrichtung, die verschiedene Schul- und Berufsabschlüsse sowie Fortbildungsseminare anbietet. Dort verbrachte Winnerl ihre Schulzeit im Internat. „Das war zu der Zeit eine gute Entscheidung", erzählt sie. Wäre sie bei den Eltern in Friedberg, nördlich von Frankfurt, geblieben, hätte sie sich nie so eigenständig entwickeln können. Davon ist sie überzeugt.
„Besser hätte es gar nicht kommen können“
Nach dem Abitur folgte eine Ausbildung als Fremdsprachensekretärin. Als die anschließende Jobsuche nicht erfolgreich war, schickte das Arbeitsamt Frankfurt ihre Bewerbung an die Fraport AG – damals noch Flughafen Frankfurt Main AG. Seit 1991 ist die gelernte Fremdsprachensekretärin nun bereits beim Betreiber des Frankfurter Flughafens angestellt. Rund 21.000 Beschäftigte arbeiten bei der Fraport AG und ihren Tochter- und Beteiligungsunternehmen vor Ort.
Winnerls erste Station war die Personalabteilung, von dort wechselte sie aber 1998 in die Geschäftsstelle der Schwerbehindertenvertretung (SBV) und des Inklusionsbeauftragten. Seit 2014 ist die Angestellte zudem gewählte 2. Stellvertreterin der SBV und damit Teil eines sechsköpfigen Teams. Als Sachbearbeiterin arbeitet sie eng mit dem Inklusionsbeauftragten und Teamleiter Reinhard Wagner zusammen und kümmert sich außerdem um das Betriebliche Eingliederungsmanagement, kurz BEM. „Besser hätte es gar nicht kommen können“, sagt sie heute. „Ich arbeite mit einem guten Team zusammen, das läuft prima.“
Der Screenreader hilft
Unterstützung erhält Winnerl im Arbeitsalltag vor allem durch Hard- und Softwarelösungen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Braillezeile. Die Braillezeile ist ein Computer-Ausgabegerät für blinde Menschen, das Zeichen und Bildschirminhalte in Blinden- oder Brailleschrift darstellt. Wenn trotzdem Probleme auftauchen, hilft der Screenreader. Mittels synthetischer Sprache macht der Screenreader zum Beispiel das Windows-Betriebssystem sowie alle gängigen Softwareanwendungen und Websites für blinde Menschen zugänglich. Seit dem Komplettverlust ihres Augenlichts scannt Winnerl zudem alle relevanten Dokumente ein, um sie sich vorlesen zu lassen.
Wenn es um die Finanzierung dieser notwendigen Hilfen für den Arbeitsalltag geht, spricht Winnerl mit Werner Scheuerling vom LWV-Integrationsamt Wiesbaden. Scheuerling ist auch für die Stadt Frankfurt am Main zuständig und kennt die Fraport-Angestellte bereits seit Mitte der 1990er-Jahre. Scheuerling ist seit 1985, direkt nach seiner Ausbildung, beim Landeswohlfahrtsverband Hessen an Bord. „Damals hießen wir noch Hauptfürsorgestelle“, berichtet Scheuerling. Seit 1990 arbeitet der 56-Jährige beim hessischen Integrationsamt und kümmert sich dort um die Themen Kündigungsschutz und begleitende Hilfen. Seit vielen Jahren ist Scheuerling auch stellvertretender Regionalmanager.
„Wir haben immer einen Weg gefunden“
Über die Jahre hat das Integrationsamt Andrea Winnerl immer dabei unterstützt, die Technik auf den neusten Stand zu bringen. Und das sei nicht so trivial, wie es sich zunächst anhöre, schildert Scheuerling. So brauchen blinde Angestellte in regelmäßigen Abständen Softwareupdates zu den großen Betriebs- und Officesystemen, damit die Braillezeile überhaupt funktioniere. Dann übernehme die Fraport-Mitarbeiterin öfter neue Aufgaben und benötige im Zuge dessen andere Soft- oder Hardware – zum Beispiel diverse Software-Anpassungen an das SAP-System. „Andrea Winnerl ist aber nicht so, dass sie sagt: Ich muss das unbedingt haben. Wir haben immer einen Weg gefunden“, erzählt Scheuerling.
Seine Beziehung zu Winnerl beschreibt er als angenehm, fast freundschaftlich. „Sie übernimmt bei Fraport die Terminkoordination für die Geschäftsstelle der Schwerbehindertenvertretung und des Inklusionsbeauftragten – deshalb haben wir ohnehin öfter miteinander zu tun“, sagt Scheuerling. Der Mitarbeiter des Integrationsamtes ist ein Freund der kurzen Wege: „Wenn ich mal vor Ort war, konnten wir auch immer gleich den ein und anderen Fall mit dem Fraport-Inklusionsbeauftragten Reinhard Wagner besprechen.“
„Andrea Winnerl zeigt, was für viele Menschen mit Behinderung wichtig ist: Schaut nicht so sehr darauf, was ihr nicht könnt – schaut auf eure Stärken. Menschen mit Behinderung sollten öfter mit einem gewissen Selbstbewusstsein zeigen, das kann ich, das will ich und das sind die Vorteile für das Unternehmen“
Arbeitsassistenz unterstützt die blinde Angestellte
Neben der IT-Unterstützung finanziert das LWV-Integrationsamt Wiesbaden für die Fraport-Sachbearbeiterin fast jährlich Weiterbildungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands. In den 1990er-Jahren wurde zudem eine Fortbildung zur Personalkauffrau übernommen. „Das lag daran, dass Andrea Winnerl in diesem Bereich ein neues Tätigkeitsfeld gefunden hatte – eigentlich ist sie ja ausgebildete Fremdsprachensekretärin", erklärt Scheuerling.
Bei der Personalbemessung im Fraport-Team ist eine Arbeitsassistenz vorgesehen. Die Arbeitsassistenz unterstützt zum Beispiel bei Vorträgen mit PowerPoint-Präsentationen, beim Kopieren und Einscannen von Dokumenten oder bei Außenterminen. „Das ist aber in diesem Fall keine festgelegte Person - das würde im Arbeitsalltag hier nicht funktionieren", schildert Scheuerling. Die Unterstützung übernimmt stattdessen jemand, der gerade im Team verfügbar ist.
Runder Tisch im BEM will Lösungen finden
Seit längerem arbeitet Winnerl innerhalb ihres Teams auch im Bereich des Betrieblichen Eingliederungsmanagement. Das BEM ist eine gesetzliche Vorgabe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB IX): Wenn Beschäftigte länger als 6 Wochen arbeitsunfähig sind, haben sie Anspruch auf ein betriebliches Eingliederungsmanagement. Im Rahmen des BEM-Verfahrens sollte der Arbeitgeber abfragen, ob und welchen Handlungsbedarf es gibt, wenn die kranken Mitarbeiter nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz arbeiten können. „Oft kann man den Sachverhalt schnell klären“, erzählt Winnerl. Aber ab und an würden auch sogenannte Runde Tische zur Klärung der unterschiedlichen Standpunkte einberufen. Dann sitzen Mitglieder der Personalabteilung, die Führungskraft, der Mitarbeitende, ein Vertreter der Arbeitsmedizin, eventuell das Integrationsamt, der Integrationsfachdienst und manchmal auch ein Vertreter des Reha-Trägers an einem Tisch und versuchen Lösungen zu finden.
Diese Termine will künftig auch Andrea Winnerl moderieren. Dazu hat sie sich um ein Moderationscoaching bei der BLISTA in Marburg bemüht, das vom Integrationsamt finanziert wird. Hier bekomme sie gezeigt, wie sie ein Gespräch mit sehenden Menschen moderieren kann, sagt Winnerl. Die angehende Moderatorin ist vom hohen Praxisbezug begeistert.
Moderationscoaching gibt Sicherheit
Eine solche Moderation ist eine echte Herausforderung, denn gerade bei solchen Gesprächen sind Gestik und Mimik oft sehr wichtig. Auch wenn Winnerl die Gesten und die Mimik der Teilnehmer nicht sehen kann, zeigt sie sich an dieser Stelle gelassen. „Spannungen spüre ich: Ich kann hören, wenn jemand schlechte Laune hat“, sagt sie. Das liegt auch an ihrer Erfahrung als SBV. Auch in dieser Rolle führt sie Einzelgespräche. Nach dem Moderationscoaching fühle sie sich aber noch gefestigter für ihre neue Aufgabe.
Das sieht auch Sylvia Königstein so, die gewählte Vertrauensperson für Menschen mit Behinderung bei der Fraport AG. „Ich finde es gut, dass Andrea Winnerl Eigeninitiative zeigt – meine Unterstützung hat sie“, sagt Königstein, die
sich aktuell mit ihrem Team, zu dem auch Andrea Winnerl zählt, um 950 Beschäftigte mit Schwerbehinderung in der Fraport AG kümmert.
„Schaut auf Eure Stärken“
Auch Teamleiter Reinhard Wagner ist beeindruckt. „Ich unterstütze, dass alle Beschäftigten in meinem Bereich sukzessive auch in neue Aufgaben reinwachsen“, sagt der Wirtschaftsingenieur, der seit 2012 Inklusionsbeauftragter der Fraport AG ist und seitdem auch Andrea Winnerl kennt. Wagner sieht auch organisatorische Vorteile durch die Moderation der Runden Tische durch seine Teamkollegin: Je mehr Leute den Runden Tisch im BEM-Verfahren moderieren könnten, desto flexibler sei man in der Terminfindung. „Andrea Winnerl habe exemplarisch vorgeführt, was für viele Menschen mit Behinderung wichtig sei: Schaut nicht so sehr darauf, was ihr nicht könnt – schaut auf eure Stärken. Menschen mit Behinderung sollten öfter mit einem gewissen Selbstbewusstsein zeigen, das kann ich, das will ich und das sind die Vorteile für das Unternehmen“, sagt der Inklusionsbeauftragte.
Werner Scheuerling freut es zu sehen, wenn jemand, den man schon so lange kennt, sich beruflich weiterentwickelt. „Das ist umso erfreulicher, weil die Chemie einfach stimmt. Sie weiß, was wir machen können, und wir wissen, wie wir sie unterstützen können. Das passt“, sagt der Mitarbeiter des Integrationsamts.
Bildergalerie
Coachings
Die Integrations- und Inklusionsämter fördern verschiedene Coachings für Mitarbeitende mit Behinderungen.
Mehr Infos finden Sie hier.
Mehr Informationen konkret zum Job-Coaching gibt es im Fachlexikon der BIH.
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- Aussichtsreiche Perspektiven
- Von der Behinderung zur Berufung
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- Strukturen für eine einheitliche Beratung
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- Vom Leben gezeichnet …
- Aktuelles Urteil: Unterschreiten der Mitarbeiterzahlen
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Sehbehinderung
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