Unterstützung auf Augenhöhe
Mit dem Augenlicht verlor Agniezka Bartoszek auch ihren Arbeitsplatz – ihren Mut und die Hoffnung jedoch nicht. Heute arbeitet die gelernte Chemietechnikerin bei der Diakonischen Altenhilfe Wuppertal als Hilfskraft im Sozialbegleitenden Dienst. Für das Projekt Sehbehinderung ist sie Expertin und eine echte Bereicherung.
"Ich wollte etwas tun und weiter berufstätig sein."
„Als ich vor sieben Jahren vollständig erblindet bin, war meine Verzweiflung wirklich groß“, erinnert sich Agnieszka Bartoszek zurück. „In meinem Beruf als Chemietechnikerin, den ich in Polen gelernt hatte, konnte ich nicht mehr arbeiten. Aber ich wollte etwas tun und weiter berufstätig sein. Also habe ich dafür gekämpft!“, sagt die zierliche Frau mit Nachdruck.
Doch vor der eigentlichen Umschulung in einen neuen Beruf war zunächst eine blindentechnische Grundausbildung erforderlich. Beim Berufsförderungswerk (BFW) für Blinde und Sehbehinderte in Düren lernte die heute 51-Jährige nach und nach, sich ohne fremde Hilfe zu bewegen: erst auf dem Gelände des BFW, dann in fremden Gebäuden und im öffentlichen Raum. „Mein Trainer ist mit mir zum Kölner Hauptbahnhof gefahren und hat dort mit mir geübt“, schildert Agniezka Bartoszek den Beginn der insgesamt dreijährigen Rehabilitation beim BFW Düren. Lesen und Schreiben der Blindenschrift, Tastschreiben am PC, und die Verbesserung ihrer Kenntnisse der deutschen Sprache schlossen sich daran an. Es sei eine sehr harte, aber auch sehr wertvolle Zeit gewesen, mit Unterbringung im Internat und Ganztagsunterricht von 8 bis 16 Uhr. Für die vielen guten Tipps und die ermutigende Unterstützung durch ihre Trainerinnen und Trainer ist Agniezka Bartoszek sehr dankbar. Denn ohne die im BFW erlernten Fähigkeiten wäre eine Teilnahme an der beruflichen Rehabilitation der Arbeitsagentur gar nicht möglich gewesen. Beim BFW absolvierte Agniezka Bartoszek dann eine Ausbildung zur Telefonistin und bestand nach einem Jahr die IHK-Prüfung mit Erfolg.
Praktikum als Einstiegshilfe in den neuen Beruf
Weniger erfolgreich verlief die Jobsuche, trotz zahlreicher Bewerbungen und den zur Reha-Maßnahme gehörenden Praktika in verschiedenen Bürobetrieben. Zum Teil lag das an der Coronapandemie und den daraus resultierenden Zugangsbeschränkungen. Die Recherche über persönliche Kontakte führte schließlich zum Erfolg: „Ich habe unter anderen meinen Physiotherapeuten gefragt, ob er einen Betrieb kennt, der jemanden sucht“, sagt Agniezka Bartoszek. Da ihr Therapeut auch für die Diakonische Altenhilfe Wuppertal tätig ist, sprach er eine Pflegemitarbeiterin an und fragte dort nach einem Job für seine engagierte Patientin. Im Mai 2022 war es so weit: Agniezka Bartoszek begann ein dreimonatiges Praktikum im Sozialbegleitenden Dienst des Gemarker Gemeindestift und nahm das Team schnell für sich ein. „Frau Bartoszek hat von Anfang an gut zu uns gepasst. Vor allem für unser Projekt Sehbehinderung ist sie eine sehr wertvolle Bereicherung – denn darin ist sie Fachfrau“, lobt die Leitung des Sozialbegleitenden Dienstes des Gemeindestiftes, Chahrazad Hsini. Für die Geschäftsleitung war daher schnell klar, dass sie Agniezka Bartoszek weiterbeschäftigen und für sie eine neue Stelle einrichten wollten.
Neuer Arbeitsplatz wird finanziell und durch Beratung gefördert
Bei der Umsetzung dieses Vorhabens bekam das Gemarker Gemeindestift umfassende Unterstützung. Über die Fachstelle für behinderte Menschen im Arbeitsleben der Stadt Wuppertal entstand der Kontakt zum LVR-Inklusionsamt. „Ich war positiv überrascht von der sehr unkomplizierten Beratung durch den LVR. Obwohl es eine Behörde ist, fühlte sich das gar nicht so an – ich konnte einfach anrufen und all meine Fragen stellen“, strahlt Chahrazad Hsini. Der LVR habe zunächst ausführlich beraten, welche zusätzliche Ausstattung für den Arbeitsplatz von Agniezka Bartoszek erforderlich ist, und welche Leistungen wo beantragt werden können, was durchaus hilfreich war.
Die Verteilung der Leistungen auf verschiedene Reha-Träger ist für Arbeitgeber oft schwer nachvollziehbar. Zudem bringt es die Notwendigkeit mit sich, mehrere separate Anträge zu stellen: So ist das Inklusionsamt für die nichtbehinderungsbedingten Arbeitsmittel für den eigentlichen Arbeitsplatz zuständig und können diese Investitionen bezuschussen. Im konkreten Fall waren das ein Schreibtisch und ein ergonomischer Bürostuhl. Die Bundesagentur für Arbeit als vorrangiger Leistungsträger dagegen trägt in diesem Fall den Lohnkostenzuschuss und die Kosten für die behinderungsbedingt notwendigen, individuellen Hilfsmittel wie Braillezeile, Screenreader, Kopfhörer und Diktiergerät. Weiterhin wurde der Integrationsfachdienst Sehen aus Düsseldorf hinzugezogen. „Wir vom IFD werden vom LVR-Inklusionsamt immer dann hinzugezogen, wenn es aufgrund der Beeinträchtigung im beruflichen Kontext Unterstützungsbedarf gibt“, erläutert IFD-Fachberaterin Sevgi Eker. Die eigentliche Arbeit mit den Anträgen, darunter das Einholen von Kostenvoranschlägen für die verschiedenen Geräte, lag jedoch beim Gemarker Gemeindestift. „Es ist schon ein hoher Zeitaufwand und erfordert trotz der Beratung einiges an Eigeninitiative“, so Hsini.
Datenschutz als Herausforderung für Barrierefreiheit
Nachdem die Geräte und Software angeschafft waren, wurde Agniezka Bartoszek an ihrem Arbeitsplatz im Umgang mit den technischen Hilfsmitteln und der Software Jaws geschult. Für Menschen mit Sehbehinderung ist Jaws ein zentrales Programm – es macht das Betriebssystem und die Anwendungsprogramme über eine Sprachsteuerung nutzbar. Jaws liest Menüs und Befehle ebenso wie die Inhalte von gescannten Dokumenten oder Gesundheitsakten vor. Ein Grund, warum vor dem Einsatz des Programms im Altenzentrum eine umfassende Prüfung und Anpassung erforderlich war, um den Datenschutz zu gewährleisten. „Es hat ein wenig gedauert, aber wir haben dann eine gute Lösung gefunden, erinnert sich Chahrazad Hsini an die anfänglichen Stolpersteine auf dem Weg zum barrierefreien Computerarbeitsplatz. Seither kann Agniezka Bartoszek eigenständig am PC arbeiten. Sie erstellt damit unter anderem Materialien für ihre Arbeit mit den Bewohnenden, zum Beispiel Fragen und Antworten für das Gedächtnistraining.
Unterricht unter Gleichen
Agniezka Bartoszek ist im Sozialbegleitenden Dienst hauptsächlich in der Einzelbetreuung der Bewohnenden eingesetzt, die sie überall im Haus in ihren Zimmern aufsucht. Ausgestattet mit ihrem Langstock und einem Trolley für die Arbeitsmaterialien bewegt sie sich völlig eigenständig durch das fünfstöckige Gebäude. Was leicht und selbstverständlich aussieht, ist das Ergebnis eines gemeinsamen Mobilitätstrainings mit einer Arbeitskollegin und kontinuierlicher Gedächtnisarbeit. Sämtliche Wege, die Agniezka Bartoszek im Gemarker Gemeindestift zurücklegt, werden von ihr Schritt für Schritt für Schritt gezählt. „Ich präge mir genau ein, wie viele Schritte es bis zum Aufzug sind, ob ihn in der Zieletage nach links oder rechts verlassen muss und wie viele Schritte es von dort bis zu einem bestimmten Zimmer sind. Ich muss mir sehr viel merken“, sagt sie und lacht.
Dank der Zählmethode komme sie im Haus sehr gut zurecht. Und dieses Know-how gibt Agniezka Bartoszek auch an die von Sehbehinderung betroffenen Klienten weiter. „Ich weiß sehr gut, was es heißt, Angst zu haben, rauszugehen“, betont sie die Bedeutung von Mobilitätstrainings. Die Bewohnenden seien überaus dankbar für Tipps und Ermutigung, sich von ihrer Sehbehinderung nicht einschränken zu lassen, sondern sich auf das zu konzentrieren, was geht.
„Ich denke nicht über meine Beeinträchtigung nach, ich konzentriere mich auf das, was geht!“
"Ich wollte immer etwas mit Menschen machen."
Besondere Freude macht Agniezka Bartoszek das Vermitteln der Blindenschrift. Ihre 86-jährige „Schülerin“ Marlene Plathner hat in wenigen Monaten gute Fortschritte gemacht. Sie kennt bereits das komplette Alphabet und kann einfache Sätze lesen und Worte in Blindenschrift schreiben. Eifrig und korrekt schreibt Marlene Plathner das Wort „Kiel“ und freut sich über den Applaus der Lehrerin. Die beiden Frauen lachen viel beim Unterricht – die Stimmung ist herzlich. Agniezka Bartoszek geht sichtlich auf in ihrer neuen Tätigkeit.
„Ich wollte immer gern mit Menschen arbeiten. Hier im Altenzentrum kann ich nun etwas sehr Nützliches tun. Die Bewohnenden erzählen mir sehr viel von sich und sie haben mich voll und ganz akzeptiert, wie ich bin. Auch meine Vorgesetzte, die Kolleginnen und Kollegen unterstützen mich sehr. Dafür bin ich wirklich dankbar“.
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Integrationsfachdienst Sehen
Der Integrationsfachdienst Sehen (IFD Sehen) ist ein Beratungsdienst im Auftrag des LVR-Inklusionsamtes und unterstützt die Teilhabe von sehbehinderten beziehungsweise blinden Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Fachberaterinnen und Fachberater des IFD informieren, beraten und unterstützen bei Fragen und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Ziel ist die dauerhafte Sicherung des Beschäftigungsverhältnisses.
Der IFD Sehen arbeitet bei Bedarf eng zusammen mit der Agentur für Arbeit, Fachstellen für behinderte Menschen im Arbeitsleben, Ärztinnen und Ärzten, Kliniken sowie anderen Fachdiensten und Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation.
Weitere Informationen und Beratungsstellen unter:
ifd-sehen.de