Arbeiten mit Rheuma
1,45 Millionen Patienten oder 2,1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland leben mit Rheuma. Entgegen der landläufigen Meinung ist Rheuma keineswegs nur eine Erkrankung älterer Menschen. Die Account-Managerin Kerstin Mahr lebt seit ihrem 15. Lebensjahr mit der Krankheit.
Der Umgang mit der Krankheit gehört schon seit Kindertagen zu meinen täglichen Erfahrungen.
Der Tag, an dem Kerstin Mahr ihre Diagnose erhielt, ist ihr bis heute noch in Erinnerung geblieben. 1998 sagte ihr ein Arzt, dass sie an Rheuma leide. „Was schauen Sie denn so entsetzt?“, habe er gefragt. Sie solle doch froh sein, dass sie eine gerade Körperhaltung habe. „Wenn ich versteifen sollte, dann werde ich gerade und nicht krumm versteifen, hat er mir gesagt“, erzählt Mahr. Die Diagnose sollte das Leben der jungen Frau auf den Kopf stellen.
Angefangen hatte es einige Jahre zuvor, so Mahr. Mit 15 Jahren hatte sie zum ersten Mal bemerkt, dass sie beim Laufen Schmerzen im Gesäß hatte – wechselseitig. Die Schmerzen seien dann in den Rücken übergegangen. „Ich habe halt gedacht, ich habe mir eine Zerrung zugezogen – auf die Idee, dass ich Rheuma haben könnte, bin ich damals nicht gekommen.“ Das Problem: Die Schmerzen gingen einfach nicht mehr weg. Dann habe es immer hin noch acht Jahre gedauert, bis sie einen Namen für die Probleme hatte.
„Bei einem Krampf kann man nicht mehr atmen.“ Mahr leidet an Morbus Bechterew, einer chronisch-entzündlichen, rheumatischen Erkrankung mit Schmerzen in und Versteifung von Gelenken. „Bei einem Krampf im unteren Lendenwirbelbereich des Rückens kann man nicht mehr atmen, bis der Krampf nachlässt“, erzählt Mahr aus ihren Erfahrungen. Da die Krankheit in Ruhezeiten schlechter wird, kommen die Schmerzen gerne nachts. Aber diese Autoimmunerkrankung wirke sich bei jedem anders aus, sagt die Rheumatikerin.
Nach einem zweiwöchigen Klinikaufenthalt im Jahr 1998 und anschließender Diagnose wusste Mahr nicht, wie mit der Krankheit umzugehen ist. „Das hat sich später rasant positiv weiterentwickelt, aber damals stand ich zunächst einmal mit der Krankheit alleine da“. Nach der Diagnose hat die junge Frau einen langwierigen Prozess durchlaufen: verstehen, akzeptieren und den Umgang mit der Krankheit perfektionieren. So musste sie zum Beispiel akzeptieren, dass sie während der Physio-Behandlung Schmerzen hatte, damit es nachher besser wurde.
Verstehen, akzeptieren und damit umgehen. Zu Anfang habe es geheißen, sie müsse jetzt ihr ganzes Leben lang Gymnastik machen und Schmerzmittel einnehmen, erzählt sie. Mahr hat sich damals gegen Schmerzmittel entschieden und die Schmerzen ausgehalten. „Schmerzmittel haben immer Nebenwirkungen, mit denen ich nicht leben wollte“, sagt sie. Dies vor allem mit der Aussicht auf eine lebenslange Einnahme. Hinzu kam, dass Mahr seit ihrem dritten Lebensjahr ihren Vater beobachtet hatte – einen Dialysepatienten, der zwei Mal wöchentlich fünf Stunden lang zur Behandlung musste. „Der Umgang mit Krankheit gehörte schon in Kindertagen zu meinen täglichen Erfahrungen“, sagt sie heute.
So hatte Mahr Dauerschmerzen und konnte keine Treppen steigen. Das sei die schwierigste Phase in ihrem Leben gewesen, erzählt sie. „Ich musste akzeptieren, dass ich permanent Schmerzen hatte – für meine direkte Umgebung war das damals auch nicht einfach.“
Medikament gibt ihr die Freiheit zurück. Das Jahr 2003 wurde zum Wendepunkt im Leben der Rheumatikerin. Mahr hatte hochgradige Entzündungswerte und war in der Frankfurter Uni-Klinik in Behandlung. „Ich bin mit heftigen Schmerzen in die Klinik und konnte sie nach der Gabe von TNF-alpha-Blockern fast schmerzfrei wieder verlassen. Die Medikamente haben mir meine Freiheit zurückgegeben“, sagt Mahr. TNF-alpha-Blocker sind biologische Medikamente, die den körpereigenen Botenstoff TNF-alpha hemmen. In der Rheumatologie fallen sie in die Gruppe der langwirksamen Antirheumatika. TNF-alpha spielt eine wesentliche Rolle bei der rheumatischen Gelenkzerstörung. Dies führte bei Arzneimittelherstellern zu der Überlegung, Substanzen zu entwickeln, die TNF-alpha hemmen und die Schädigung des Gelenks verhindern. Mahr hatte Glück – bei ihr schlug das Medikament gut an. Auch heute noch spritzt sich die Rheumatikerin das Medikament alle sechs Wochen und ermöglicht ihr so ein fast schmerzfreies Leben. Trotzdem muss Mahr, die jetzt zusätzlich an einer beidseitigen Hüft-Arthrose leidet, fast täglich ihre Gymnastikübungen machen.
Kolleginnen und Kollegen, die bereits mit Einschränkungen leben, werden bestmöglich unterstützt.
Fast 25 Jahre Betriebszugehörigkeit. Seit 1998 arbeitet die gelernte Industriekauffrau und Fremdsprachensekretärin bei dem Telekommunikationsdienstleister Colt Technology Services GmbH in Frankfurt. Anfangs hat sie sich um die Rechnungsstellung gekümmert. Im Laufe der Jahre wechselte sie dann in den Vertrieb und arbeitet jetzt zusammen mit rund 220 Kollegen als Account-Managerin in der Hauptniederlassung in Frankfurt (Main). In dieser Position betreut sie Kunden im Geschäftskundenbereich, wie große Versicherungen und Konzerne. Vor sechs Jahren hat die Rheumatikerin zusätzlich ihre Prüfung zur staatlich geprüften Betriebswirtin abgelegt. Damit arbeitet die 47-Jährige seit fast 25 Jahren bei dem IT-Dienstleister. „Ich bin praktisch einer der Dinosaurier bei uns“, sagt sie und lacht. Die Account-Managerin ist schwerbehindert – sie hat seit dem Jahr 2000 einen Schwerbehindertenausweis, der ihr einen Grad der Behinderung von 50 mit Gehbehinderung attestiert. Trotzdem, oder vielleicht genau deswegen, hat sie immer die Jobs in Vollzeit erledigt, für die sie eingesetzt wurde.
Engagement als Vertrauensperson. Neben ihrer Arbeit ist sie seit 2004 fast durchgehend als (stellvertretende) SBV im Unternehmen. In dieser Funktion hat Mahr auch mit dem Integrationsamt Wiesbaden zusammengearbeitet. Meist wurden individuelle Kündigungsfälle von Beschäftigten mit Behinderung besprochen. „Die Zusammenarbeit lief immer gut und absolut reibungslos“, erzählt die Rheumatikerin, die sich auch aktiv in der Betriebsratsarbeit engagiert. Seit dem vergangenen Jahr ist Mahr zudem im globalen Netzwerk „Disability Access Network“ ihres international aufgestellten IT-Arbeitgebers aktiv. „In diesem Netzwerk fördern wir weltweit die Inklusion auf der Grundlage unserer Leitlinien“, sagt sie. Die Idee: Alle 5.000 Mitarbeiter des IT-Dienstleisters sollen für einen einheitlichen Inklusionsstandard fit gemacht werden. „Kollegen, die bereits mit Einschränkungen leben müssen, werden bestmöglich unterstützt und eingesetzt“, sagt die Rheumatikerin. In diesem internationalen Unternehmensnetzwerk ist die engagierte Account-Managerin für die Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz verantwortlich.
Flexible Arbeitszeiten helfen. Die Colt Technology Services GmbH will die Inklusion im Unternehmen weiter fördern. Dazu überlege man sich neben den progressiven Leitlinien, die im globalen Netzwerk „Disability Access Network“ vorangebracht werden, auch individuelle Förderungen, sagt Corinna Greis, Personalchefin und Coun-try Managerin des Unternehmens. So kann sich die Account-Managerin ihre Arbeitszeit flexibel einteilen und auch vor der Corona-Pandemie konnte sie bereits bei Bedarf zu Hause arbeiten. Auch hat die Beschäftigte mit Behinderung seit 2005 einen an sie ergonomisch angepassten Schreibtisch und Bürostuhl – „Das hilft ungemein“, sagt Kerstin Mahr.
Greis ist stolz auf ihre Mitarbeiterin. „Ein absolutes Allroundtalent und ein wertvolles Teammitglied“, sagt die Personalchefin. Auch habe man sich sehr über die Auszeichnung mit dem Deutschen Rheumapreis gefreut, denn im vergangenen Jahr ist Kerstin Mahr geehrt worden. Mit dem Preis werden Personen und Unternehmen mit Vorbildcharakter öffentlich gewürdigt. Denn es besteht Handlungsbedarf: Derzeit geben rund fünf Prozent der Berufstätigen mit Rheuma im ersten Jahr ihrer Erkrankung und etwa 20 Prozent nach drei Jahren ihren Arbeitsplatz auf.