Inklusion: Maßgeschneidert

Der Herrenschneider Yusuf Aydoğan arbeitet am Staatstheater Nürnberg. Er muss dreimal in der Woche zur Dialyse. Das ZBFS-Inklusionsamt und die AOK kooperieren, um ihm eine weitestgehend normale Weiterbeschäftigung zu ermöglichen.

Schöner, aber stressiger Job

Seine Aufgaben am Theater sind vielfältig: Sie reichen von der Anfertigung von Nachbildungen historischer Kleidung über Änderungen und Anpassungen von Bühnenkostümen aus dem riesigen Fundus bis zum abendlichen Garderobendienst, zu dem er aber seit dem Ausbruch seiner Krankheit nicht mehr eingeteilt wird. Vor allem der Garderobendienst zur Vorstellung kann schon mal stressig werden. Die Schneiderinnen und Schneider warten dann in der Garderobe oder am Seitenrand der Bühne, um die Schauspielerinnen und Schauspieler in Windeseile umzuziehen oder noch sehr kurzfristig Änderungen vorzunehmen. „Wenn ein Sänger – ich arbeite nur für die Herren – krank wird, muss schnell für den Ersatzmann das Kostüm angepasst werden“, erzählt Aydoğan. Teil des abendlichen Dienstes ist auch das Wegräumen der Garderoben in den Fundus oder in die Wäscherei. Das geht bis spät in die Nacht und die Schneider sind häufig die letzten im Haus. 

Aydoğan leidet seit längerer Zeit an hohem Blutdruck, gegen den er Medikamente nimmt. Hinzu kamen dann vor zehn Jahren starke Kopf- und Nackenschmerzen, die er – auch ärztlich verschrieben – mit Schmerzmitteln bekämpfte.

Der Herrenschneider Yusuf Aydoğan sitzt an der Nähmaschine.

Dramatische Entwicklungen

Der Herrenschneider hatte in der Folgezeit immer öfter mit Luft- und Atemnot zu kämpfen. Er dachte an eine Lungenentzündung und ging zum Hausarzt. Nach der Blut- und Urinuntersuchung rief dieser Aydoğan noch am Abend an und überwies ihn mit besonderer Dringlichkeit zum Nephrologen – einem Nierenfacharzt. Nach weiteren Untersuchungen dort war klar: Der Herrenschneider leidet an einer Niereninsuffizienz. Seine Nieren leisten nur noch 15 Prozent ihrer Arbeit. Er musste sofort an die Dialyse.

Die Niere besteht aus mehr als einer Million kleinster Röhrchen (Nephronen), die Schadstoffe aus dem Körper ausfiltern und über den Harnleiter an die Blase zur Ausscheidung übergeben. Da die Nieren ununterbrochen von Blut durchströmt werden (rund 1.700 Liter pro Tag), führen Nierenfehlfunktionen fast immer zu veränderten Blutwerten, die der Hausarzt und der Nephrologe im Fall Aydoğan direkt und richtig zuordnen konnten.

Dialyse dauert mehr als vier Stunden

Seit Oktober 2019 hat sich das Leben des Schneiders dadurch sehr verändert: An drei Tagen in der Woche wird seitdem im Klinikum Neumarkt, zehn Kilometer von seinem Wohnort entfernt, die sogenannte Hämodialyse bei ihm durchgeführt. "Hämo" steht in der Sprache der Mediziner für "Blut". Die Hämodialyse ist die häufigste Form der Dialyse und wird auch als "Blutwäsche" bezeichnet. Das bedeutet: Das Blut wird mit Hilfe eines Dialysators – oft "künstliche Niere" genannt – aus dem Körper geführt, gereinigt und anschließend wieder sauber in den Patienten zurückgeleitet. Diese Prozedur wird jetzt seit mehr als vier Jahren an Aydoğan jeden Montag, Mittwoch und Freitag von 18 bis 22:30 Uhr durchgeführt. Am nächsten Tag träte er dann planmäßig wieder seine Arbeit im Staatstheater an – ein strammer und belastender Wochenplan, erzählt Aydoğan.

Um diesen Wochenplan zu bewältigen muss der Herrenschneider an drei Tagen in der Woche seinen Arbeitsplatz früher verlassen, damit er um 18 Uhr auf der Liege neben dem Dialysator im Klinikum Neumarkt liegen kann. Diese Fehlzeit addierte sich in der Woche auf sechs Stunden. Anfangs habe er dies noch mit Überstunden abgelten können, sagt Aydoğan. „Aber das war keine Lösung.“ 

Leistungen zur Rehabilitation

Die hatte dann Stephanie Gröschel-Unterbäumer, die stellvertretende Schwerbehindertenvertretung der Staatsbühne in Nürnberg, gemeinsam mit der SBV. Die beiden sprachen ausführlich mit Aydoğan, der aufgrund seiner Nierenerkrankung schwerbehindert ist, und seiner Vorgesetzten und nahmen dann Kontakt mit dem Integrationsfachdienst, kurz IFD, auf. Gleichzeitig wurde die Krankenkasse des Herrenschneiders kontaktiert. Das Ergebnis: Der IFD empfahl dem Arbeitgeber, einen Antrag beim ZBFS-Inklusionsamt auf Beschäftigungssicherungszuschuss zu stellen und die Arbeitsbedingungen des Schneiders anzupassen. Die Besonderheit im Fall Aydoğan: Auch die Krankenkasse AOK erstattet dem Arbeitgeber einen Teilbetrag, sogenannte ergänzende Leistungen zur Rehabilitation nach § 43 SGB V (siehe Kasten). 

Yusuf Aydoğan erhält aufgrund der Dialyse, die medizinisch indiziert, notwendig und erforderlich ist, diese Leistung von seiner Krankenkasse, der AOK. Die Stunden, die er früher seinen Arbeitsplatz verlassen muss, werden durch die AOK ausgeglichen. Das ZBFS-Inklusionsamt in Nürnberg hat dann auf der Grundlage der Stellungnahme des IFD einen Beschäftigungssicherungszuschuss nach § 27 Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung (SchwbAV) bewilligt. Der Zuschuss kann jährlich verlängert werden. Er wird in diesem Fall halbjährlich an den Arbeitgeber ausgezahlt – das handhabt aber jedes Bundesland unterschiedlich.

„Im Fall Aydoğan ist das Besondere, dass Inklusionsamt und AOK kooperiert und eine optimale Lösung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gefunden haben."
Hannah Maciossek, ZBFS-Inklusionsamt

Gute Zusammenarbeit mit Arbeitgeber

„Das Besondere am Fall Aydoğan war das Zusammenspiel der unterschiedlichen Leistungsträger, von dem der Arbeitgeber kaum etwas mitbekommen hat“, erzählen Hannah Maciossek, Sachbearbeiterin im ZBFS-Inklusionsamt Mittelfranken mit Sitz in Nürnbergund und Ute Günzel, die das Amt leitet. Die Zusammenarbeit sei gut und unkompliziert. Und Günzel wirbt gleich für einen neue Institution in der beruflichen Teilhabe: Mit den neuen Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAA) werde sich die Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern weiter vereinfachen, da ist sich Günzel sicher.

Marion Geipel, die am Staatstheater Nürnberg in der Abteilung „People and Culture” arbeitet, ist zufrieden. „Yusuf Aydoğan hat bei uns durch seine Krankheit und seine Dialysebehandlungen keine Gehaltseinbußen“, sagt sie. Eine Schneiderin aus dem Team, die in Teilzeit arbeite, habe sechs Stunden zusätzlich übernommen. „Die hat sich gefreut, dass sie ihre Stunden aufstocken kann“, sagt Geipel. Zudem achte die Kostümdirektorin auf den Arbeitsaufwand Aydoğans, der vom Garderobendienst freigestellt sei und keine Terminaufträge mehr fertigstellen muss. Der sehr geschätzte und versierte Kollege bleibt dem Team so erhalten. Zur Zusammenarbeit mit dem Inklusionsamt findet die Personalerin nur lobende Worte. „Wir stellen einmal im Jahr einen Antrag auf Verlängerung – es ist sehr unkompliziert.“ Alles laufe komplett ohne Probleme.

„Ich liebe meinen Job und kann weiterarbeiten."

Auch Aydoğan freut sich, dass sich die Situation geklärt hat. „Ich liebe meinen Job“, sagt er. Auch deshalb sei die Unsicherheit zuvor so belastend gewesen. Im vergangenen Herbst war er ein paar Wochen in der Reha im hessischen Bad Nauheim. Um zu einer Nierentransplantation zugelassen zu werden, musste er noch einige Kilo abnehmen, das sei ihm dort gelungen, sagt er und führt weiter aus: „Die Wartezeit liegt aktuell bei acht bis zehn Jahren, ich muss also noch etwas Geduld haben. Aber ich will vorbereitet sein."

Bildergalerie

Der Herrenschneider Yusuf Aydoğan näht ein Stück Stoff.

Der gelernte Herrenschneider Yusuf Aydoğan im Atelier. | Foto: Rupert Oberhäuser

Der Herrenschneider Yusuf Aydoğan legt Stoff um eine Schneiderpuppe.

Die Aufgaben am Theater sind vielfältig. | Foto: Rupert Oberhäuser

Der Herrenschneider Yusuf Aydoğan hält ein Stück Stoff in den Händen und spricht mit seiner Kollegin.

Kostümdirektorin Eva Weber und Yusuf Aydoğan im Kostümfundus. | Foto: Rupert Oberhäuser

Der Herrenschneider Yusuf Aydoğan lächelt in die Kamera.

Seit fast 30 Jahren arbeitet der heute 54-Jährige beim Staatstheater als Maß- und Herrenschneider. | Foto: Rupert Oberhäuser

Der Herrenschneider Yusuf Aydoğan näht ein Stück Stoff.

Yusuf Aydoğan übt seinen Beruf bereits seit über 25 Jahren aus. | Foto: Rupert Oberhäuser

Kostümdirektorin Eva Weber. | Foto: Rupert Oberhäuser

Der gelernte Herrenschneider Yusuf Aydoğan im Atelier. | Foto: Rupert Oberhäuser

Die Aufgaben am Theater sind vielfältig. | Foto: Rupert Oberhäuser

Kostümdirektorin Eva Weber und Yusuf Aydoğan im Kostümfundus. | Foto: Rupert Oberhäuser

Seit fast 30 Jahren arbeitet der heute 54-Jährige beim Staatstheater als Maß- und Herrenschneider. | Foto: Rupert Oberhäuser

Yusuf Aydoğan übt seinen Beruf bereits seit über 25 Jahren aus. | Foto: Rupert Oberhäuser

Kostümdirektorin Eva Weber. | Foto: Rupert Oberhäuser

Was ist eine ergänzende Leistung zur Rehabilitation?

Je nach Art der Dialyse können Versicherte ganztags oder gegebenenfalls nur zeitweise bei ihrer Arbeit verhindert sein. Der Gesetzgeber hat für den Umgang mit diesem Verdienstausfall keine eigene rechtliche Regelung geschaffen, da die Zahl der Betroffenen gering ist und die existierenden gesetzlichen Grundlagen ausreichen. Der Umgang wurde daher im Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) besprochen. So hat die Fachkonferenz Leistungs- und Beziehungsrecht im September 2013 und im September 2015 die bisherige Auffassung und Verfahrensweise der Erstattung des Entgeltausfalls bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit während der Arbeitszeit (Teilarbeitstag) wegen einer Dialysebehandlung (konkret für für die Hämodialyse, die Peritonealdialyse und die Lipidapherese) bestätigt. Der Beschluss gilt GKV-weit: „Dem Arbeitgeber soll auf der Grundlage des § 43 Abs. 1 Nr. 1 SGB V das auf die ausgefallene tägliche Arbeitszeit entfallene Bruttoarbeitsentgelt zuzüglich der Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Sozialversicherung erstattet werden. Vom Arbeitgeber sind die Sozialversicherungsbeiträge vom ungekürzten Arbeitsentgelt abzuführen."

Diese ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation regelt also § 43 SGB V. Zur Vereinfachung kann eine Vereinbarung mit dem Arbeitgeber, dem Versicherten und der Krankenkasse über eine beispielsweise monatliche Erstattung getroffen werden.

Was ist der Beschäftigungssicherungszuschuss?

Ist ein Arbeitnehmer aufgrund einer Behinderung eingeschränkt in seiner Leistung, kann das den Arbeitgeber finanziell belasten. Überdurchschnittlich hohe finanzielle Aufwendungen und andere außergewöhnliche Belastungen können für den Arbeitgeber mit einem Beschäftigungssicherungszuschuss abgefedert werden. Für wen der Zuschuss in Frage kommt, welche Rahmenbedingungen erfüllt sein müssen und welche Gesetze greifen weiß das BIH-Fachlexikon.

Die EAA in Bayern

In Bayern haben die IFD die Aufgaben der EAA, die Anfang 2022 geschaffen wurden, übernommen. Der Vorteil für die Arbeitgeber durch die EAA: Mit nur einer Servicenummer erreichen sie die Beraterinnen und Berater, die sie bei allen Fragen der Inklusion an die Hand nehmen und die geräuschlos im Hintergrund alle Verantwortlichen zusammenbringen.

Wenn Sie mehr über die EAA (in Bayern oder in Ihrem Bundesland) erfahren wollen, finden Sie hier viele Informationen

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