Von großer Bedeutung
Welche Neuerungen bringt der Koalitionsvertrag der „Ampel“ und wieso sind die neuen Ansprechstellen ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr beruflicher Teilhabe? Bundesarbeitsminister Hubertus Heil beantwortet diese Fragen im Interview mit ZB und gibt einen Ausblick auf die weitere Legislaturperiode.
Besonders gut gelungen ist aus meiner Sicht die Umsetzung des „Corona-Teilhabe-Fonds“ durch die Integrationsämter
Herr Heil, das Thema Teilhabe und Inklusion findet sich im Koalitionsvertrag wieder. Wenn Sie die letzte Legislaturperiode betrachten – was ist aus Ihrer Sicht gut gelungen?
Der Blick zurück ist natürlich stark geprägt durch die COVID-19-Pandemie. Auch viele Menschen mit Behinderungen waren hart getroffen, etwa durch Betretungsverbote von Wohneinrichtungen und die Schließung von Arbeitsstätten. Auch deshalb war mir das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz so wichtig. Wir konnten so wichtige soziale Infrastruktur erhalten. Gut funktioniert hat auch der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen. Deren Arbeitslosigkeit ist zwar pandemiebedingt angestiegen, aber nicht so stark wie die allgemeine Arbeitslosigkeit.
Gibt es noch weitere Erfolge?
Besonders gut gelungen ist aus meiner Sicht die Umsetzung des „Corona-Teilhabe-Fonds“ durch die Integrationsämter, und zwar neben dem üblichen Tagesgeschäft. Mein Eindruck ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in allen 17 Integrationsämtern und bei der BIH trotz der Mehrbelastung durch mehr als 1.000 Anträge ganz hervorragende Arbeit geleistet haben. Sie alle haben Anteil daran, dass – insbesondere bei den Inklusionsbetrieben – durch schnelle Hilfe viele Arbeitsplätze erhalten werden konnten. Dafür meinen herzlichen Dank.
Und wo setzen Sie die Schwerpunkte in den kommenden vier Jahren?
In dieser Legislaturperiode wollen wir die Teilhabe schwerbehinderter Menschen weiter verbessern. Ein zentraler Punkt ist hierbei, den Arbeitsmarkt inklusiver zu gestalten. Als Beispiele denke ich hierbei an die Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber, eine vierte Staffel bei der Ausgleichsabgabe sowie die Weiterentwicklung von Werkstätten für behinderte Menschen. Ein weiterer sehr wichtiger Schwerpunkt liegt auf der Verbesserung der Barrierefreiheit.
Im Koalitionsvertrag sind sowohl die vierte Stufe der Ausgleichsabgabe als auch die Weiterentwicklung der Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber thematisiert – gehören für Sie die beiden Maßnahmen zusammen?
Für mich gehören die beiden Maßnahmen zusammen. Deshalb wollte ich in der vergangenen Legislaturperiode beides mit dem Teilhabestärkungsgesetz regeln. Leider hat die Erhöhung der Ausgleichsabgabe damals keine parlamentarische Mehrheit gefunden.
Nun haben wir die Einführung einer vierten Staffel im Koalitionsvertrag vereinbart. Die Erhöhung ist wichtig und richtig, da rund ein Viertel aller beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigt. Mit der vierten Staffel soll die Anreizwirkung zur Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen weiter gestärkt werden. Zugleich werden die Arbeitgeber von den Einheitlichen Ansprechstellen profitieren und ihre Beschäftigungspflichten leichter erfüllen können. Die ersten Ansprechstellen haben bereits ihre Arbeit aufgenommen – und es werden stetig mehr. Auch hier gilt mein Dank der BIH und den Integrationsämtern, die den Auftrag schnell und sehr engagiert umsetzen.
Was erwarten Sie denn konkret von den Ansprechstellen?
Die Ansprechstellen beraten und informieren Arbeitgeber bundesweit, unabhängig und trägerübergreifend rund um die Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen. Zugleich unterstützen sie beim Stellen von Anträgen. Damit bauen wir bürokratische Hürden ab und erleichtern gerade kleinen und mittleren Unternehmen die Erfüllung ihrer Beschäftigungspflicht.
Menschen mit und ohne Behinderungen sollen gleiche Chancen zur Teilhabe haben. Das bedeutet für mich Inklusion, und dafür setze ich mich als Minister ein.
Hat das Bundesteilhabegesetz (BTHG) mit seinen Änderungen im SGB IX die Erwartungen der Politik an den Übergang von Menschen aus den Werkstätten für behinderte Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt erfüllt?
Das BTHG hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo sie arbeiten möchten. Seit Inkrafttreten gibt es attraktive Alternativen zu einer Beschäftigung in einer Werkstatt, sei es das Budget für Arbeit oder das Budget für Ausbildung, das wir zum 1. Januar 2020 im Rahmen des Angehörigen-Entlastungsgesetzes eingeführt haben. All diese Leistungen sind noch relativ neu, müssen noch bekannter werden und brauchen wohl auch noch ein bisschen Zeit, ihre Wirkung voll zu entfalten. Die bisher vorliegenden Zahlen sind aber durchaus positiv: Laut dem Kennzahlenvergleich der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) erhielten bis zum 31. Dezember 2019 rund 1.500 Menschen mit Behinderungen ein Budget für Arbeit. Klar ist aber auch, dass der Übergang von der Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nur selten gelingt.
Was kann man da tun?
Hier sehe ich Handlungsbedarf. Der Koalitionsvertrag enthält den klaren Auftrag, die Angebote der Werkstätten stärker auf die Integration sowie die Begleitung hin zum allgemeinen Arbeitsmarkt auszurichten. Dies wollen wir auf einer wissenschaftlich fundierten Grundlage tun: Wir evaluieren daher die mit dem BTHG neu eingeführten Leistungen und prüfen, ob sie die Ziele erreichen. Wichtige Erkenntnisse wird zudem unser Forschungsvorhaben zum Entgeltsystem in den Werkstätten für behinderte Menschen liefern.
Vergessen darf man bei allem Reformeifer aber nicht: Viele Beschäftigte sind mit der Arbeit in der Werkstatt zufrieden und streben keinen Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt an. Auch dies ist im Sinne des Wunsch- und Wahlrechts zu respektieren.
Im Herbst des Jahres stehen die Wahlen zur SBV an – welche Bedeutung haben Ihres Erachtens die Vertrauenspersonen für Arbeitgeber und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?
Die Vertrauenspersonen haben eine entscheidende Rolle als Ansprechpartner für die Beschäftigten und die Arbeitgeber. Sie fördern die Eingliederung der Beschäftigten mit Schwerbehinderung und diesen gleichstellten Personen und vertreten deren Interessen. Außerdem wirken sie maßgeblich an den Inklusionsvereinbarungen mit und sorgen dafür, dass sich die Anliegen von schwerbehinderten Beschäftigten dort wiederfinden. Die Vertrauenspersonen haben also viele Aufgaben und viele Berührungspunkte mit Arbeitgebern und Beschäftigten. Entsprechend groß ist ihre Bedeutung.
Warum ist Ihnen persönlich das Thema Inklusion wichtig?
Als Minister habe ich viele Gelegenheiten gehabt, Menschen mit Behinderungen zu treffen und deren Interessen, Sorgen und Erfolge kennenzulernen. Dabei habe ich viel über die konkreten Herausforderungen und Barrieren im Alltag erfahren. Und auch Jürgen Dusel, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, hat mir für so manches Thema ‚die Augen geöffnet‘. Sein Mantra, dass Demokratie und Inklusion zusammen gedacht werden müssen, hat mich überzeugt. Menschen mit und ohne Behinderungen sollen gleiche Chancen zur Teilhabe haben. Das bedeutet für mich Inklusion, und dafür setze ich mich als Minister ein. Auch als Vater habe ich gemerkt, dass wir als Gesellschaft mehr tun müssen. Wo ein Kinderwagen nicht die Treppe herunterkommt, schafft es ein Rollstuhl schon gar nicht. Hier geht es um räumliche Barrieren, aber auch kaum verständliche Fahrkartenautomaten oder Internetseiten mit unübersichtlicher Gestaltung machen vielen Menschen das Leben schwer. Diese Umstände betreffen in Deutschland bereits über 13 Mio. Men-schen unmittelbar, die (schwer-) behindert oder gesundheitlich beeinträchtigt sind. Dazu kommen dann noch Angehörige von Betroffenen, Familien mit Kindern, ältere Menschen und Touristen aus anderen Ländern, die ebenfalls alle von einem barrierefreien Umfeld profitieren. Deshalb muss dringend etwas passieren.
Was könnte das sein?
Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf ein ganzes Bündel an Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit festgelegt. Diesen Auftrag möchte ich als Minister erfüllen und die Barrierefreiheit in den nächsten Jahren stark vorantreiben. Dafür werde ich u.a. das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und das Behindertengleichstellungsgesetz weiterentwickeln. Auch wenn es noch ein weiter Weg ist: Ich bin zuversichtlich, dass wir ein inklusiveres Umfeld für ALLE schaffen können und die gesamte Gesellschaft davon profitieren wird.
Zur Person
Hubertus Heil ist seit 2018 Bundesminister für Arbeit und Soziales, zunächst im Kabinett Merkel IV, nun im Kabinett Scholz. Der gebürtige Hildesheimer ist außerdem seit 2019 stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD.