Deutlicher, kompromissloser
Verena Bentele war Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Heute leitet sie Deutschlands größten Sozialverband. Wie sich ihr Einsatz für Inklusion dadurch verändert hat und wie sie die Inklusionsbemühungen der neuen Bundesregierung bewertet, erzählte sie der ZB.
Frau Bentele, Sie sind Präsidentin des VdK – das ist der größte Sozialverband in Deutschland. Können Sie für unsere Leserinnen und Leser einmal erklären, wo die Schnittmengen zu den Integrationsämtern liegen?
Wir ziehen am selben Strang und in die gleiche Richtung. Während die Integrationsämter Maßnahmen und Leistungen für schwerbehinderte Menschen und Arbeitgeber anbieten, um schwerbehinderten Menschen die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen, setzt sich der VdK politisch für mehr Beschäftigung dieser Menschen auf dem Arbeitsmarkt ein. Dazu bringen wir unsere Forderungen und Verbesserungsvorschläge in Gesetzgebungsverfahren ein und sprechen viel mit politisch Verantwortlichen, um sie als Mitstreiter zu gewinnen. Der VdK macht aber auch konkret Betriebsarbeit. Das heißt, wir unterstützen Schwerbehindertenvertretungen und führen zum Teil auch Schulungen für Arbeitgeber und die betrieblichen Interessensvertretungen durch, um über die konkreten Fördermöglichkeiten der Integrationsämter und der Rehabilitationsträger zu informieren.
Was haben Sie sich denn für Ihre Präsidentschaft besonders auf die Flagge geschrieben?
Ein besonderes Anliegen ist für mich, dass endlich die hohe Arbeitslosigkeit von schwerbehinderten Menschen zurückgeht. Viele Arbeitgeber haben leider noch große Hürden im Kopf und zögern, schwerbehinderte Menschen einzustellen, oder, wenn man es anders fassen möchte: Sie weigern sich. Es ist verantwortungslos, wenn mehr als ein Viertel der Arbeitgeber in Deutschland keine schwerbehinderten Bewerber einstellen. Diese Bewerber möchten arbeiten, aber die Unternehmen geben ihnen keine Möglichkeit ihre Potentiale zu zeigen. Ich möchte, dass schwerbehinderte Menschen gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, dass sie aufgrund ihrer Fähigkeiten, nicht ihrer Behinderung beurteilt werden.
Enorm wichtig ist auch, dass endlich die vierte Staffel der Ausgleichsabgabe kommt. Eine Grundvoraussetzung für echte Teilhabe im Leben und am Arbeitsleben ist natürlich die Beseitigung von Barrieren. Nur wenn digitale, bauliche oder auch sprachliche Barrieren beseitigt werden, haben wir einen großen Schritt für mehr Gleichberechtigung geschafft.
Frau Bentele, wir haben Sie 2015 für die ZB interviewt, damals noch in anderer Funktion. Wie hat sich denn Ihr Blick auf das Thema Inklusion in den letzten Jahren verändert?
Als Beauftragte der Bundesregierung kann man sich positionieren, Dinge anstoßen und auch das Bewusstsein in der Gesellschaft schärfen. Es gab ja in der Zeit durchaus auch Fortschritte bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Wichtig war und ist beispielsweise die Einrichtung einer Schlichtungsstelle im Jahr 2017, an die sich Menschen mit Behinderungen wenden können, wenn sie von Bundesbehörden benachteiligt werden.
Als Präsidentin des VdK als größter Sozialverband in Deutschland kann ich deutlicher und parteiisch im Sinne unserer Mitglieder Position beziehen und unsere Forderungen an die Politik richten.
Inklusion in allen Lebensbereichen ist nach wie vor mein Ziel. Es ist also der gleiche Blick wie früher, aber in mancherlei Hinsicht noch detaillierter und – wenn Sie so wollen - auch kompromissloser. Als VdK wollen wir Gesetze ändern, damit sich die Situation für Menschen mit Behinderung, für Pflegebedürftige, für chronisch Kranke, für Ältere, für Familien mit behinderten Kindern ändert.
Ich muss nicht den Koalitionsvertrag der Ampelregierung erklären und verteidigen. Wir schauen genau hin: Wo ist eine Lücke im Gesetz, die Menschen mit Behinderung benachteiligt? Wo ist etwas zwar geregelt, funktioniert aber in der praktischen Umsetzung nicht, und welche Stellschraube in welchem Gesetz muss gedreht werden, damit sich die Situation für Menschen mit Behinderung verbessern kann?
Was sind die Themen, die seitdem immer noch wichtig sind, die noch offen sind?
Fehlende Barrierefreiheit ist immer noch ein wichtiges Thema.
Sie ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass alle Menschen gleichberechtigt am Leben teilhaben können. Fehlende Barrierefreiheit verhindert den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und damit auch zu Ausbildung und Arbeit. Auch digitale Barrieren verhindern die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben.
Es greift zu kurz, wenn es eine Pflicht zur Barrierefreiheit erst dann gibt, wenn ein Arbeitgeber einen Menschen mit Behinderung beschäftigt. Das kann behinderte Bewerber im Auswahlverfahren massiv benachteiligen.
Wenn neue Arbeitsstätten geplant oder bestehende wesentlich geändert werden, muss die barrierefreie Gestaltung nach der Arbeitsstättenverordnung verpflichtend werden.
Realistische Herangehensweise
Wo steht denn die berufliche Teilhabe in Deutschland aktuell? Wie schätzen Sie das ein?
Es sind zwar schon einige Dinge verbessert worden, aber die Teilhabe am Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen ist – auch durch Corona – wieder zurückgeworfen worden.
Die Situation ist bei weitem nicht zufriedenstellend: Während die Zahl der Arbeitslosen allgemein etwas zurückgeht, steigt die der Menschen mit Schwerbehinderungen wieder an. Mehr als 170.000 schwerbehinderte Menschen sind arbeitslos gemeldet. Rund drei Viertel aller Arbeitgeber erfüllen die Pflichtquote nicht, und immer noch stellen 43.800 Arbeitgeber, die eigentlich beschäftigungspflichtig sind, nicht einmal einen einzigen schwerbehinderten Menschen ein. Das muss sich rasch ändern. Der Gesetzgeber muss dringend für die Unternehmen und Dienststellen, die keinen schwerbehinderten Menschen beschäftigen, eine deutlich höhere Ausgleichsabgabe einführen. Die Verweigerung darf sich nicht mehr lohnen, denn sie geht auch zu Lasten der Unternehmen, die sich an die Beschäftigungspflicht halten.
Ihre Einschätzung zu den einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber, die aktuell umgesetzt werden: Diese waren immer wieder Thema in den vergangenen Jahren – wie beurteilen Sie denn die Entscheidung, diese bei den Integrationsämtern anzusiedeln?
Wir haben die neuen Ansprechstellen nicht gefordert und hätten uns eher schon in der letzten Legislaturperiode die Einführung einer vierten Staffel bei der Ausgleichsabgabe gewünscht. Nun stehen die Ansprechstellen im Gesetz und werden bundesweit aufgebaut. Dass sie bei den Integrationsämtern angesiedelt sind, ist grundsätzlich richtig.
Allerdings ist aus Sicht des VdK die fehlende Bereitschaft, schwerbehinderte Menschen einzustellen, nach vielen Jahren der Sensibilisierungs-, Informations- und Aufklärungskampagnen, nach unzähligen Broschüren und Projekten zur Förderung der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht auf fehlende Informations- und Beratungsmöglichkeiten für Arbeitgeber zurückzuführen.
Die Ansprechstellen sollten über eine reine Lotsenfunktion hinaus weiterentwickelt werden zu einem „runden Tisch zur Einstellung und Beschäftigungssicherung von Menschen mit Behinderung“. Arbeitgeber, schwerbehinderte Bewerber oder Beschäftigte sowie alle Kostenträger sind für ein gemeinsames Fallmanagement an einen Tisch zu holen. Dabei sollten alle in Frage kommenden Fördermöglichkeiten inklusive Antragstellung geklärt und zügig in die Wege geleitet werden. Sie sollten auch nicht nur für Arbeitgeber, sondern auch für Schwerbehindertenvertretungen und Betriebsräte ansprechbar sein.
Der Arbeitsmarkt ist für Frauen mit einer Schwerbehinderung besonders schwierig. Warum ist das so, und was kann dagegen unternommen werden?
Im März letzten Jahres (2021) hat Aktion Mensch eine repräsentative Studie zur Situation von Frauen mit Schwerbehinderung am Arbeitsmarkt veröffentlicht. Die hat leider das große Lohngefälle zwischen Frauen und Männern mit Behinderung, ihre häufige Teilzeitbeschäftigung, Benachteiligungen beim Berufseinstieg und daraus resultierende Armut bestätigt. 37 Prozent arbeiteten Teilzeit. Im Durchschnitt verdienten die Frauen monatlich 667 Euro weniger als die Männer. Für eine gerechte Teilhabe am Arbeitsleben ist ein Bewusstseinswandel erforderlich. Hinzu kommt häufig die Doppelbelastung durch Arbeit und Haushalts- und Familienaufgaben. Inklusion muss immer auch Gendergerechtigkeit mitdenken.
Die Schwerbehindertenvertretung in Deutschland ist vorletztes Jahr 100 Jahre alt geworden – wo wäre bei diesem sehr etablierten Amt denn Reformbedarf?
Mit dem Bundesteilhabegesetz hat es schon einige Verbesserungen für die Schwerbehindertenvertretungen gegeben, aber die reichen noch nicht aus. Um nur einige von vielen Forderungen zu nennen:
Im Falle der Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten muss der Arbeitgeber die SBV zuvor unterrichten, anhören sowie die Entscheidung mitteilen. Wird das nicht eingehalten, ist die Kündigung unwirksam. Diese Regelung reicht aber nicht aus. Nur eine informierte und frühzeitig eingebundene SBV kann ihrem Auftrag für die betriebliche Inklusion nachkommen. Um rechtzeitig gute Lösungen für die Beschäftigten und den Arbeitgeber zu finden, muss sie bereits im Vorfeld von geplanten personellen Maßnahmen informiert und angehört werden, noch bevor der Arbeitgeber eine Kündigung in Betracht zieht. Es sollte im Gesetz klargestellt werden, dass die Beteiligung zu erfolgen hat, bevor der Arbeitgeber schon den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung beim Integrationsamt gestellt hat. Eine nachträgliche Anhörung verfehlt ihren präventiven Zweck.
Wir wollen darüber hinaus eine Unwirksamkeitsklausel bezüglich aller personellen Entscheidungen des Arbeitgebers über schwerbehinderte Beschäftigte, wenn diese ohne die Information und Anhörung der SBV beschlossen wurde. Das gilt insbesondere für eine geplante Versetzung oder eine vom Arbeitgeber veranlasste Aufhebung des Arbeitsvertrags.
Diese Freistellungsmöglichkeit reicht angesichts der vielfältigen und wachsenden Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung nicht aus. Sie wird ohnehin nur in wenigen sehr großen Unternehmen erreicht. Trotz des Anspruchs, für die Durchführung der erforderlichen Aufgaben freigestellt zu werden, führt dies in kleinen und mittleren Unternehmen häufig zu Problemen und Rechtfertigungsdruck. Der VdK setzt sich dafür ein, dass auch in kleinen und mittleren Unternehmen die Arbeit der Schwerbehindertenvertretungen gestärkt wird.
Betriebs- und Personalräte haben einen Anspruch auf externe Sachverständige ihres Vertrauens, um fachliche und methodische Unterstützung bei der Verfolgung ihrer Interessen zu erhalten. Der rechtliche Anspruch ist im Betriebsverfassungsgesetz und in Personalvertretungsgesetzen festgelegt. Angesichts der vielen und komplexen Aufgaben der Schwerbehindertenvertretungen müssen auch diese einen Anspruch auf fachliche externe Unterstützung bekommen.
Was würden Sie den Integrationsämtern gerne mitgeben, und was den Leserinnen und Lesern (SBVen, Inklusionsbeauftragte …)?
Es wäre schön, wenn Anträge auf Leistungen und Hilfen zügig bearbeitet werden und die Antragstellung weniger kompliziert wäre. Wenn ein Arbeitgeber erst wochenlang warten und zig Formulare ausfüllen muss, überlegt er sich möglicherweise zweimal, den schwerbehinderten Bewerber einzustellen oder doch lieber einen nichtbehinderten Bewerber zu nehmen. Aufgrund der Behinderung von Kündigung bedrohte Beschäftigte benötigen schnelle Beratung und Hilfe, damit eine Kündigung erst gar nicht in Betracht gezogen wird. Eine rasche Bearbeitung darf umgekehrt aber nicht bedeuten, den Antrag dann lieber schnell abzulehnen. Der Schwerpunkt der Förderung durch die Integrationsämter sollte auf der Integration in den ersten Arbeitsmarkt liegen und weniger auf der Förderung von Sonderwelten.
Von den Inklusionsbeauftragten der Arbeitgeber wünsche ich mir weiterhin viel und gerne noch mehr Engagement, Inklusion in den Betrieben und Dienststellen voranzutreiben. Umgekehrt setzen wir uns als VdK dafür ein, dass die Inklusionsbeauftragten in Unternehmen künftig besser abgesichert werden und sich ihre rechtliche Position verbessert. Sie haben bisher keine Weisungsfreiheit und keinen besonderen Kündigungsschutz durch ihr Amt. Das kann zu Rollen- und Interessenskonflikten führen, und das macht diese wichtige Aufgabe im Unternehmen für viele Führungskräfte unattraktiv.
Die Schwerbehindertenvertretungen haben ein wichtiges und verantwortungsvolles Amt und ihre Belastung ist durch viele zusätzliche Aufgaben in den letzten Jahren gestiegen. Wir werden uns als VdK weiterhin für ihre Belange einsetzen und ihnen den Rücken stärken, denn sie sind im Unternehmen oft der eigentliche Motor für Inklusion.