Chronisch erkrankt aber unsichtbar
Sag‘ ich’s, oder sag‘ ich’s nicht: Auf die Frage, ob man eine chronische Erkrankung offenlegen soll, gibt es keine richtige oder falsche Antwort. Ein Projekt der Universität zu Köln soll die Entscheidungsfindung für Betroffene erleichtern.
Miriam Klaas (Name von der Redaktion geändert) hat eine seltene Autoimmunerkrankung: Nebenniereninsuffizienz, genannt „Morbus Addison“. Sie braucht täglich Medikamente; sind diese nicht gut dosiert, spürt sie starke Symptome wie Übelkeit, Schwäche und Schmerzen. „Soll ich es meinem Arbeitgeber sagen?“ Eine Frage, die Miriam Klaas lange umtrieb.
Verbreitetes Problem
Damit ist sie nicht allein: Rund die Hälfte der Deutschen leidet an einer chronischen Erkrankung, nicht alle haben einen amtlich anerkannten Schwerbehindertenstatus. „Menschen mit chronischen Erkrankungen spüren einen großen Druck, ob sie bei der Arbeit etwas von der Erkrankung erzählen sollen oder nicht. Aber auch Vorgesetzte und Kolleg*innen erleben bei diesem Thema oft starke Unsicherheiten.“, sagt Dr. Jana Bauer. Sie leitet gemeinsam mit Prof. Dr. Mathilde Niehaus das Projekt „Sag ich’s“ der Universität zu Köln.
www.sag-ichs.de
Im Rahmen der Initiative ist eine Webseite entstanden, die Arbeitnehmer*innen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, also chronischen körperlichen oder psychischen Erkrankungen oder Behinderungen, dabei unterstützt, den für sich passenden Umgang im Job zu finden. Ziel des Projektes ist es, sie für eine selbstbestimmte und informierte Entscheidung zu stärken. „Chronische Erkrankungen sind meistens nicht für andere sichtbar. Die Entscheidung zur Offenlegung liegt bei den Betroffenen.“ erklärt Bauer. Und genau hier liege das Problem: Viele empfänden Angst vor negativen Konsequenzen wie zum Beispiel einer Stigmatisierung, so Bauer. Mit ihrer Webseite sag-ichs.de möchten die Initiatoren diesen Menschen helfen, sagt auch Mathilde Niehaus. „Wir können ihnen die Entscheidung nicht abnehmen, aber die Möglichkeiten aufzeigen.“ Dabei sind Offenlegung und Nicht-Offenlegung gleichberechtigte Optionen. Beide können – je nach Sachlage – die individuell richtige Entscheidung darstellen.
Praktische Entscheidungshilfe
Den Besucher*innen der Webseite steht unter anderem ein interaktiver Selbsttest zur Verfügung. Dieser hilft Arbeitnehmer*innen dabei, einen Überblick darüber zu bekommen, was in ihrer individuellen Situation für und was gegen einen offenen Umgang sprechen könnte. So spiele beispielsweise das betriebliche Umfeld eine wichtige Rolle, sagt Mathilde Niehaus: „Wenn in einem Unternehmen Vielfalt und Inklusion gelebt werden, unterstützt das unter Umständen eine Offenlegung durch betroffene Mitarbeiter*innen.“ Die Bearbeitung des Selbst-Tests dauert circa 20 bis 30 Minuten und erfolgt anonym. Am Ende erhalten Teilnehmende allerdings keine Antwort auf die Frage „Sag ich’s oder sag ich’s nicht?“: „Wir bieten eine praktische Hilfe, um die Gedanken zu sortieren. Die Entscheidung müssen die Betroffenen am Ende für sich selbst treffen.“, erläutert Niehaus das Tool. Aber auch dazu, wie man auf Basis der Auswertung des Selbst-Tests zu einer für sich guten Entscheidung kommen kann, bietet die Webseite Unterstützung.
Gut zu wissen – so lautet die Rubrik, in der Interessierte auf sag-ichs.de weitere Informationen und Materialien rund um das Thema Arbeiten mit chronischer Erkrankung und Behinderung finden. Neben Informationen zur Offenlegungsentscheidung, rechtlichen Fragen und nächsten Schritten zur Umsetzung der Entscheidung, gibt es hier auch einen Überblick über relevante Ansprechpersonen und Anlaufstellen, die weiterführende Beratung und Unterstützung anbieten. Auch betriebliche Akteur*innen wie zum Beispiel Schwerbehindertenvertretungen können die Entscheidungsfindung begleiten. Und das nicht nur, wenn Sie Bescheid wissen. Laut Niehaus reiche es oft, wenn im Betrieb ganz allgemein auf Angebote wie sag-ichs.de verwiesen werde. Ob die Betroffenen diese dann nutzen, liege aber natürlich bei ihnen.
Aktiv im Betrieb
Sag ich’s, oder sag ich’s nicht? Eine sehr persönliche Entscheidung, die Miriam Klaas inzwischen für sich getroffen hat: Nach anfänglichem Zögern hat sie mit ihrem Vorgesetzten über ihre chronische Erkrankung gesprochen. „Das war eine Riesenerleichterung.“, sagt Klaas. Sie habe seitens ihrer Kolleg*innen und ihres Chefs offene Ohren und konkrete Unterstützung gefunden. „Ich bin einfach nur froh, dass alle so entspannt reagiert haben. Das nimmt mir den Stress, falls ich mal spontan ausfalle.“ Miriam Klaas hat sich getraut und ist auf Verständnis gestoßen. Das ist nicht immer so, denn nicht in jedem Betrieb ist eine offene Kommunikation an der Tagesordnung. Aber: „Arbeitgeber können und sollten ihren Beitrag leisten: Wer ein vertrauensvolles Umfeld im Unternehmen schafft und authentisches Interesse am Wohlergehen der Beschäftigten zeigt, hat größere Chancen auf offene Worte der Mitarbeiter*innen“, so Jana Bauer, „und das ist doch am Ende für alle besser.“
Sag ich's?
Die Website wurde an der Universität zu Köln gemeinsam mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen entwickelt.
Mehr erfahrenFachlicher Kontakt zum Projekt
Prof. Dr. Mathilde Niehaus und Dr. Jana Bauer
Universität zu Köln
Lehrstuhl für Arbeit und berufliche Rehabilitation