
Frauen mit Autismus: Beschäftigung verbessern
Trotz oft hoher Bildungsabschlüsse haben Frauen mit hochfunktionalem oder Asperger-Autismus es im Berufsleben nicht leicht. Das Projekt AUT*CIA identifiziert die Herausforderungen und entwickelt Maßnahmen für eine nachhaltige Beschäftigung.
Lange galt Autismus bei Frauen als große Ausnahme. Mittlerweile weiß man: Die neurologische Entwicklungsstörung wird bei Frauen häufig nur nicht erkannt, weil sie sich anders äußert als bei Männern. Das gilt besonders im Bereich des hochfunktionalen Autismus (HFA) oder Asperger-Autismus. Die wissenschaftliche Forschung konnte zeigen, dass Frauen mit HFA oder Asperger-Autismus über stärkere kompensatorische Fähigkeiten verfügen. Sie können ihre autistischen Verhaltensweisen besser unterdrücken und „normales“ Verhalten imitieren. In der Forschung spricht man hier vom sogenannten Camouflaging (siehe Infobox).
Dennoch kommt es vor allem im Erwachsenenalter und speziell im Berufsleben zu Problemen, die auch immer wieder dazu führen, dass die betroffenen Frauen langzeiterkranken und nicht mehr arbeitsfähig sind. Diese Erkenntnisse konnte das Forschungsprojekt AUT*CIA des Berufsbildungswerks Abensberg bestätigen beziehungsweise identifizieren (CIA steht für Chancengleichheit schwerbehinderter Frauen mit HFA/Asperger-Autismus im Arbeitsleben). „Autismus im Berufsleben ist in der Forschung noch ein Randthema, dabei ist eine erfüllende berufliche Tätigkeit enorm wichtig für die persönliche Zufriedenheit“, berichtet Hannah Krohn, wissenschaftliche Projektleiterin bei AUT*CIA: „Das vorrangige Ziel des AUT*CIA-Projekts ist es deshalb, die Beschäftigung von autistischen Frauen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachhaltig zu verbessern.“
Große Schwierigkeiten im Berufsleben
Im Rahmen des AUT*CIA-Projekts wurden in einer quantitativen Erhebung zunächst etwa 800 Frauen und Männer befragt. Statistisch ausgewertet wurden dann die Daten mit gesicherter Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. Die wesentlichen Erkenntnisse aus den Interviews sind:
- Frauen erhalten im Schnitt sieben Jahre später ihre Diagnose als Männer. Im Durchschnitt mit 30 Jahren.
- Je später die Diagnose gestellt wurde, desto größer war das Risiko, eine Depression zu entwickeln.
- Frauen scheinen mehr Probleme im Berufsleben beziehungsweise in der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen zu haben als Männer. Trotz eines sehr hohen Bildungsniveaus.
Letzteres scheint vor allem eine Folge des Camouflagings zu sein. Denn die kognitiven Kompensationsstrategien bleiben immer skripthaft und können die spontane, überwiegend sozial-intuitive Verhaltensweise nur unzureichend ersetzen. Spätestens im Erwachsenenalter werden die Anpassungsstrategien zunehmend schwieriger, da es höhere Anforderungen an die sozialen Kompetenzen gibt. Die betroffenen Frauen ecken trotz ihrer Bemühungen, sich anzupassen, immer wieder an. Vor allem wenn keine Diagnose vorliegt, haben die Mitmenschen wenig Verständnis.
„Zudem wird gesellschaftlich ein autismustypisches Verhalten – die häufig sehr direkte, wenig empathische oder einfühlsame Art – eher bei Männern toleriert als bei Frauen“, sagt Tanja Ederer, Leiterin Projektmanagement bei AUT*CIA. Das führt zu einer enormen psychischen Belastung der Frauen. „Viele der Befragten berichteten, dass die Diagnose für sie eine große Erleichterung war, weil sie endlich eine Erklärung für ihre Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation hatten“, sagt Hannah Krohn.
Bedürfnisse erkennen und Lösungen finden
Die Diagnose spielt auch im beruflichen Kontext eine wichtige Rolle. Damit Arbeitgeber grundsätzlich offen für spezielle Wünsche sind, ist vor allem die Autismusdiagnose eine wichtige Voraussetzung, sagt Tanja Ederer: „Ohne Diagnose stoßen die betroffenen Frauen häufig auf Unverständnis, wenn sie um „Sonderbehandlungen“ wie ein Einzelbüro oder abweichende Pausenzeiten bitten.“
Überhaupt erst die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und benennen zu können ist der erste Schritt für die betroffenen Frauen, um eine Arbeitsplatzsituation zu schaffen, in der sie leistungsfähig sind. Der zweite Schritt ist dann, diese Bedürfnisse gegenüber dem Arbeitgeber oder den Kolleginnen und Kollegen zu artikulieren. „Und die Bedürfnisse sind sehr individuell. Deshalb gibt es keine Patentlösung, sondern es müssen einzelfallbezogene Lösungen gefunden werden“, betont Hannah Krohn.
Dennoch gibt es ein paar zentrale Faktoren, die den meisten Menschen aus dem Autismus-Spektrum am Arbeitsplatz entgegenkommen:
- Eine ruhige und möglichst reizarme Umgebung
- Wenig direkter Kundenkontakt, zum Beispiel kein Telefonservice
- Klare Kommunikation bei Arbeitsaufträgen
- Unmittelbares und ehrliches Feedback, wenn Verhalten als unangemessen empfunden wurde
Dolmetscher hilft bei Missverständnissen
„Aus den Berichten der Projektteilnehmerinnen ließ sich ableiten, dass ihnen vor allem eine feste Ansprechperson hilft, die in Konfliktsituationen oder bei Missverständnissen als eine Art Dolmetscher fungiert“, berichtet Hannah Krohn. Dieser Dolmetscher kann ein Therapeut, Freund, Familienmitglied oder auch ein verständnisvoller Kollege sein.
Hannah Krohn und Tanja Ederer veranschaulichen an einem Beispiel, wie ein solches Buddy-System Konflikte auflöst oder im besten Fall vermeidet: „Firmenfeiern – eine unübersichtliche Situation, Smalltalk, viele Menschen, oft laute Musik – das ist für viele Autistinnen Stress pur“, sagt Hannah Krohn. Deshalb würden sie sich häufig im Vorfeld krankmelden. Aus autistischer Ehrlichkeit gäben sie dann vielleicht noch an, sich aufgrund der Veranstaltung krankzumelden, was den Arbeitgeber vor den Kopf stoßen kann. Hier kann ein Dolmetscher helfen, zu erklären, warum die Krankmeldung problematisch wirkt. Gemeinsam mit der Betroffenen und dem Arbeitgeber kann dann eine Lösung gesucht werden – etwa eine kurzzeitige Teilnahme an der Veranstaltung oder einen Tag Urlaub nach der Veranstaltung zu nehmen.
Fazit: Akzeptanz und gezielte Unterstützung
„Auf die aktuelle Situation von autistischen Frauen bezogen, lässt sich leider festhalten, dass sie die Benachteiligten der Benachteiligten sind“, sagt Hannah Krohn. Um an dieser Situation etwas zu ändern, wäre eine frühe Diagnosestellung in der Kindheit wichtig, damit sie früher Hilfen (etwa soziales Kompetenztraining) bekommen. Bezogen auf eine erfolgreiche Integration im Arbeitsleben, ist ein gut informiertes Umfeld, das bereit ist, auf die individuellen Bedürfnisse der Autistin Rücksicht zu nehmen, und auch eine gewisse Toleranz gegenüber speziellen Eigenheiten hat, entscheidend. Dies kann durch entsprechende Sensibilisierung der Kolleginnen und Kollegen, offene Kommunikation, aber auch gezielte Unterstützung der betroffenen Kollegin, etwa durch spezielle Kompetenzschulungen, gelingen.
Handlungsempfehlungen für Arbeitgeber
Im Rahmen des Projekts wurden Handlungsempfehlungen mit hilfreichen Tipps entwickelt, wie Arbeitgeber sowie Kolleginnen und Kollegen Frauen mit Autismus unterstützen können:
- Klare Kommunikation: Autistische Frauen profitieren genauso wie autistische Männer von klaren, strukturierten Anweisungen. Vage Aussagen oder spontane Änderungen können Stress auslösen. Arbeitgeber sollten daher klare Abläufe und präzise Kommunikation fördern.
- Feste Strukturen schaffen: Ein strukturierter Tagesablauf und vorhersagbare Arbeitsprozesse reduzieren Unsicherheiten.
- Rückzugsorte bieten: Autistische Frauen scheinen besonders empfindlich auf sensorische Reize zu reagieren. Deshalb sind ein ruhiger, reizarmer Arbeitsplatz und zusätzliche Rückzugsmöglichkeiten (speziell in Pausen) für sie besonders wichtig.
- Sensibilisierung der Belegschaft: Schulungen und Workshops zum Thema Autismus können das Team und Vorgesetzte für die Bedürfnisse autistischer Frauen sensibilisieren und Missverständnisse reduzieren. Je mehr Wissen über Autismus vorhanden ist, desto größer sind die Akzeptanz und die Bereitschaft, die betroffenen Frauen zu unterstützen.
Download: Handlungsempfehlung für Arbeitgeber
Camouflaging: autistisches Verhalten maskieren
Ein häufiges Phänomen bei autistischen Frauen ist das sogenannte Camouflaging oder Maskieren. Dabei versuchen Betroffene, ihre autistischen Merkmale bewusst zu verbergen und sich an die sozialen Erwartungen ihrer Umgebung anzupassen. Sie imitieren zum Beispiel Gestik, Mimik oder Verhaltensweisen anderer, um „normal“ zu wirken. Dies geschieht oft, um sozial akzeptiert zu werden und Vorurteilen oder Missverständnissen vorzubeugen.
Dieses Verhalten kann kurzfristig den sozialen Umgang erleichtern, ist jedoch für die Betroffenen sehr anstrengend und führt oft zu Erschöpfung und Stress. Langfristig kann Camouflaging das Risiko für psychische Probleme wie Depressionen und Angst- oder Essstörungen erhöhen und zu einem schlechten Selbstwertgefühl beitragen. Viele autistische Frauen fühlen sich, als müssten sie eine Rolle spielen, um in der Arbeitswelt oder im sozialen Umfeld zu bestehen. Doch auch trotz größter Anstrengungen, die für das Umfeld oft gar nicht sichtbar sind, haben sie doch häufig das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Das AUT*CIA-Projekt
Das Projekt AUT*CIA ist ein Forschungsprojekt, gefördert durch das Ministerium für Arbeit und Soziales aus den Mitteln des Ausgleichsfonds. Es wurde vom 1. April 2022 bis zum 31. Dezember 2024 durchgeführt. Ziel war es, die spezifischen Barrieren und Förderfaktoren von Frauen mit Autismus zu identifizieren und ihre Situation im Berufsleben besser zu verstehen. Aufbauend auf den Ergebnissen wurden im Zuge der Wissenschaftskommunikation zwei Wege eingeschlagen. Einerseits die Weitergabe von Wissen an Frauen mit Autismus (= Empowerment) und andererseits eine Sensibilisierung und Aufklärung zum Thema Autismus (speziell bei Frauen) im Berufsleben. Die in der Studie identifizierten Kernthemen wurden für die jeweilige Zielgruppe aufbereitet und auf einer Website zusammengetragen.
Hier finden Frauen mit Autismus, aber auch Arbeitgeber und Personalverantwortliche außerdem Kontakte und Adressen von Hilfsangeboten, Tipps, Erklärvideos und Broschüren. Christian Weißenberger, Leiter des Inklusionsamts Bayern, der als Vertreter der BIH im Projektbeirat mitwirkte, betont: „Aufklärung von Vorgesetzten und von Kolleginnen und Kollegen ist ein wesentlicher Baustein, um Frauen mit Autismus eine zufriedenstellende Arbeitsplatzsituation zu bieten, in der sie ihr Leistungspotenzial voll entwickeln können. Es freut mich daher, dass mithilfe der BIH auch ein kurzer Erklärfilm entstanden ist, der einerseits über herausfordernde Situationen für Autisten im Arbeitsalltag aufklärt, andererseits aber auch Tipps über den Umgang damit bietet.“
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