Liebe Leserinnen und Leser,

in Deutschland leben schätzungsweise 800.000 Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS), was etwa einem Prozent der Bevölkerung entspricht. Diagnosen werden meist bereits im Kindesalter gestellt. Einige Betroffene erhalten ihren Befund jedoch erst im Erwachsenenalter. Studien zeigen, dass nur etwa 15 Prozent der autistischen Erwachsenen in einem regulären Arbeitsverhältnis sind. Und das trotz häufig guter Qualifikationen, was auf erhebliche Barrieren bei der gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe hinweist.

Ein gelungenes Beispiel für die Inklusion von autistischen Menschen ist die Firma auticon, die sich das Klischee zur Mission gemacht hat. Bei dem internationalen IT-Unternehmen arbeiten überwiegend autistische Menschen. Sie sind als Spezialistinnen und Spezialisten in verschiedenen IT-Bereichen tätig und werden von auticon an Kunden entsandt. Damit das gut klappt, setzt die Firma auf Betreuung und Coaching. Eine der Coaches, Sabine Koch, begleitet unter anderem Alexander Metelmann, einen Spezialisten für Cybersecurity. Die Geschichte des Duos finden Sie in unserer Titelgeschichte und dem dazugehörigen Film.

Der Forschungsstand rund um Autismus-Spektrum-Störungen hat sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt. Vor allem wurde klar, dass deutlich mehr Frauen betroffen sind als bisher angenommen. Frauen mit hochfunktionalem Autismus können, auch aufgrund der Sozialisierung, den Autismus besser maskieren. Man spricht dann von „Camouflaging“: Um sich anzupassen, imitieren Betroffene Gefühlsregungen und Verhaltensweisen von Nichtautisten. Dazu haben wir zwei Forscherinnen interviewt, die sich im Projekt „AUT*CIA“ mit hochfunktionalem Autismus bei Frauen beschäftigen.

Um der niedrigen Beschäftigungsquote von Autistinnen und Autisten etwas entgegenzusetzen, haben sich auch die Berufsbildungswerke in Deutschland besser aufgestellt. Viele von ihnen sind mittlerweile zertifiziert als besonders kompetent im Umgang mit Menschen mit ASS. Welche Erfahrungen die Berufsbildungswerke in ihrer Beratung gemacht haben und wie sie autistische Arbeitssuchende unterstützen, berichtet eine Fachreferentin für Autismus.

Ein weiteres Tool, um Menschen mit Autismus im Arbeitsleben zu unterstützen, sind digitale Assistenzsysteme. Die Technische Universität (TU) Dresden entwickelt derzeit ein Assistenzsystem für Autistinnen und Autisten im Job. Die Problemstellung: Herausfordernde Arbeitsbedingungen wie Zeitdruck, Informationsüberflutung, hohe kommunikative Anforderungen, soziale Kompetenz sowie zu viele sensorische Reize überfordern viele Menschen mit Autismus. Hier soll das neue Assistenzsystem ansetzen. Wir sprachen mit den Forscherinnen und Forschern darüber, wie weit das Projekt bisher gediehen ist.

Mit den Beiträgen in dieser ZB-Ausgabe möchten wir zeigen, dass Arbeitnehmende mit Autismus mit den richtigen Unterstützungsangeboten und auf der passenden Stelle hervorragende Mitarbeitende sein können. Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre und den einen oder anderen Aha-Moment!

Herzlichst,

Ihr Michael Wedershoven
Leiter des LWL-Inklusionsamt Arbeit

Autismus, was ist das?

Was ist eigentlich Autismus? Das erklärt dieser Film der BIH.

ASS oder Autismus. Wie soll ich’s nennen?

Autismus-Spektrum-Störung ist aktuell der Begriff, den Ärztinnen und Ärzte und die ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) verwenden. Autistinnen und Autisten werden auch umgangssprachlich als „im Spektrum befindlich“ bezeichnet. Besonders im angelsächsischen Raum wird „on the spectrum“ gleichgesetzt mit autistisch. Die Begrifflichkeit rührt daher, dass Autismus nicht eine spezifische Ausprägung hat, sondern ein ganzes Spektrum an Eigenschaften mit sich bringt.

Menschen mit ASS und auch ihre Interessenverbände bezeichnen sich jedoch selbst oft lieber als Autistinnen und Autisten oder als autistisch, da sie ihre Eigenart nicht als Störung empfinden. Die Argumentation ist eine ähnliche wie bei ADHS: Als neurodivergente Person ist man anders als neurotypische Personen, aber nicht gestört. Deshalb hilft es im Umgang mit autistischen Menschen meist, einfach zu fragen: Wie möchte der- oder diejenige gern genannt werden?

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