„Autisten sagen, was Sache ist"

Mit einer einzigartigen Personalstruktur verbindet der IT-Service-Provider auticon wirtschaftliche und soziale Ziele: 80 Prozent seiner Mitarbeitenden sind Autisten – wie Alexander Metelmann. Seinen Arbeitsplatz findet er „fantastisch“.

„Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.“ Ein schlichter Satz, den Hermann Gerwig, Head of Operations bei auticon, gerne zitiert. Denn er sagt alles aus, wofür das Unternehmen steht: Seit über 13 Jahren setzt der IT-Dienstleister auf die besonderen Fähigkeiten von Autisten und hat sich mit diesem Erfolgsmodell zu einem weltweit agierenden Unternehmen mit ca. 600 Mitarbeitenden weltweit und 125 Mitarbeitenden in Deutschland entwickelt. Etwa 80 Prozent von ihnen sind autistische IT-Consultants. Aber auch Menschen mit anderen neurodivergenten Eigenschaften wie ADHS oder Lese- und Rechtschreibstörung haben in den deutschlandweit sechs Niederlassungen Jobs gefunden. Von hier aus unterstützen sie Firmen bei hochwertigen Technologie-Services.

Besondere Fähigkeiten wertschätzen

Einer von ihnen ist Alexander Metelmann. Erst vor fünf Jahren erhielt der heute 46-jährige IT-Consultant die Diagnose Autismus. Bis dahin hatte er nach Abitur und Ausbildung zum Programmierer verschiedene Jobs im IT-Umfeld und auch ein Ingenieursstudium begonnen, aber regelmäßig abgebrochen. Rückblickend sagt er: „Es ist immer zu viel auf mich eingestürmt, ich war mit jeder Situation überfordert. Aber ich wusste nicht, warum.“

Nachdem er sich einige Jahre um die Erziehung seiner beiden Kinder gekümmert hatte, war es an der Zeit für eine feste Stelle. „Also habe ich geguckt, was etwas für mich sein könnte.“ Bei auticon traf er dann erstmals auf einen Arbeitgeber, der ihn versteht und, noch viel wichtiger: seine außergewöhnlichen Fähigkeiten wertschätzt. Kurz zusammengefasst, liegen diese bei vielen Autisten in logischem und analytischem Denken, langer Konzentrationsfähigkeit und großem Qualitätsbewusstsein sowie einem hohen Anspruch an sich selbst. Hermann Gerwig schätzt darüber hinaus ihre grundlegende Ehrlichkeit und direkte, sachliche Kommunikation: „Autisten sagen geradeheraus, was Sache ist, ohne es persönlich zu meinen.“ Doch eben deshalb eckte Metelmann bei früheren Arbeitgebern oft an – denn im Umkehrschluss fehlt Autisten meist das Gespür für emotionale, „weiche“ Kommunikation und für den gewünschten sozialen Umgang. Die Folge: Was bei Analyse und Lösungsfindung von Vorteil ist, kann sich im Kundengespräch als Schwäche erweisen.

„Autisten sagen geradeheraus, was Sache ist, ohne es persönlich zu meinen.“
Hermann Gerwig, Head of Operations bei auticon

Jobcoaches vermitteln beim Auftraggeber

„Genau dafür haben wir unsere Jobcoaches“, erläutert Gerwig die Personalstruktur bei auticon: Neben den IT-Spezialisten und Projektmanagern, die Projekte fachlich übergreifend beim Kunden betreuen, stehen den autistischen IT-Experten deutschlandweit elf Jobcoaches im Arbeitsalltag zur Seite. Sie vermitteln und filtern, räumen Organisatorisches aus dem Weg.  

Zum Beispiel Sabine Koch. Sie ist Ansprechpartnerin für achtzehn Consultants in der Niederlassung Düsseldorf, darunter Alexander Metelmann. Einmal die Woche haben Koch und Metelmann einen kurzen digitalen Austausch, ansonsten springt sie ein, wenn es in der Kommunikation beim Kunden zu Missverständnissen kommt. Kochs Vorteil ist, dass ihr beide Seiten vertraut sind. Nach über 20 Jahren im IT-Controlling lernte sie auticon kennen und war „von der ersten Sekunde an begeistert“. Ihren Entschluss, nach einer Weiterbildung zum Jobcoach und zum Thema Autismus bei auticon anzufangen, hat sie nie bereut. „Mir gefällt die offene, ehrliche Art der Mitarbeiter“, sagt sie. „Man weiß, woran man ist.“

Autismus-Briefings zum Einstieg

Damit dies auch die Kunden so sehen, stehen zu Beginn neuer Aufträge immer circa 45- bis 60-minütige Autismus-Briefings an, die meist großes Interesse wecken. Dabei geht es um Autismus und Neurodivergenz sowie um Punkte, die für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Consultants unerlässlich sind. „Zum Beispiel Termintreue, ein verlässlicher Informationsfluss, klare Anweisungen und Ansprechpartner. Also eigentlich, was wir alle uns ebenso wünschen“, so Koch. „In diesen tollen Gesprächen werden viele stereotype Bedenken ausgeräumt.“ Manche IT-Consultants wie Metelmann nehmen an den Briefings gern teil, eher schüchterne verzichten darauf. Eine freiwillige Entscheidung.   

Dass die Arbeitsaufträge größtenteils vom Homeoffice aus erledigt werden, findet Metelmann „fantastisch“. Denn für Autisten bedeute schon die ÖPNV-Nutzung eine Belastung: „Die Enge, die Gerüche, der Lärm“, zählt er auf. „Oder die Zugverspätungen, die uns unter Stress setzen, weil wir Termine nicht einhalten können.“ Nur bei Bedarf finden persönliche Treffen in den Niederlassungen oder beim Auftraggeber statt.

Erfolgsfaktor technische Kompetenz

Die Projekte, in denen die Mitarbeitenden eingesetzt werden, sind so vielfältig wie die Kundenstruktur. Diese reicht von der kleinen Web-Agentur über den Mittelstandsbetrieb bis zu großen, weltweit tätigen Unternehmen. „Auch von den Branchen her sind wir breit aufgestellt“, sagt Gerwig, der auf manch beständige Kundenbeziehung von bis zu zwölf Jahren stolz ist. Ein weiterer Vorteil für Autisten, die bevorzugt kontinuierlich an einem Projekt arbeiten. Betont würde bei langfristigen Geschäftsbeziehungen stets die technische Kompetenz des Teams. „Autisten denken auch mal lateral statt von oben nach unten“, erläutert der Head of Operations. „Sie schaffen andere Verbindungen und finden Lösungsmöglichkeiten, auf die ein neurotypischer Mensch nicht kommt.“ Dabei gehe es gar nicht immer um Hightech-Entwicklungen, sondern oft einfach darum, Daten zu sortieren und ordentlich zu strukturieren.

Aber auch in die Entwicklung sind die IT-Consultants eingebunden. Metelmann beispielsweise hatte die Idee für ein Konzept im Bereich Cybersicherheit. Dabei kamen ihm die „typisch autistischen“ Fähigkeiten zugute, Details zu fokussieren, Muster, Verknüpfungen und Abweichungen zu erkennen – eine Qualifikation, die man nicht an der Uni lernt. Sabine Koch betont deshalb, dass auticon offen für alle Bewerbungen von Autisten ist, unabhängig von ihrer Ausbildung.

Zur gelungenen Zusammenarbeit im Team trägt nach Kochs Ansicht auch der offene und humorvolle Umgang untereinander bei. „Die Kommunikation unter Autisten ist vielleicht manchmal durch die direkte und ehrlich Art deutlich rauer, aber für uns stressfreier“, ergänzt Metelmann schmunzelnd. „Es ist, als könnte man seine Muttersprache sprechen. Das habe ich an keinem anderen Arbeitsplatz erlebt.“ Im Joballtag mit „neurotypischen“ Menschen hingegen leiste er „Übersetzungsarbeit“.

 

Alex Metelmann lächelt in die Kamera
Alex Metelmann lächelt in die Kamera

Pluspunkt soziale Nachhaltigkeit

Bei der Entscheidung für auticon spielt auch der Status „Social Enterprise“ eine Rolle. Denn auticon ist als Inklusionsunternehmen organisiert. 2013 wurden mit Gründung der Düsseldorfer Niederlassung vier Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung vom LVR-Inklusionsamt gefördert, außerdem wurde eine investive Förderung in Höhe von 10.320 Euro gewährt. 2016 kamen noch einmal fünf Arbeitsplätze und weitere Investitionszuschüsse dazu. Zusätzlich erhält auticon laufend Personalkostenzuschüsse (eine Aufschlüsselung der Förderungen finden Sie am Ende des Textes). Mario Martin vom LVR-Inklusionsamt betreut auticon und kann nur Positives berichten: „Es läuft!“ Laut Martin sei es nicht selten, dass der Integrationsfachdienst bei Inklusionsunternehmen hinzugezogen werden muss oder dass Arbeitsplätze umbesetzt werden müssten. Beim Klienten auticon sei das nicht der Fall, „auch die Fluktuation ist sehr gering“, so Martin. Das sei laut René Stenz, Teamleiter für Inklusionsprojekte im LVR-Inklusionsamt, auch der guten psychosozialen Betreuung zuzuschreiben, die für Inklusionsbetriebe vorgeschrieben ist und die bei auticon durch die Coaches, wie Sabine Koch, erfüllt wird.

Alexander Metelmann im Portrait

„Die Kommunikation unter Autisten erscheint vielleicht manchmal rauer, ist aber für uns stressfreier“

Alexander Metelmann, auticon
Sabine Koch im Portrait

„Mir gefällt die offene, ehrliche Art der Mitarbeiter. Man weiß, woran man ist.“

Sabine Koch, Coachin
René Stenz im Portrait

„Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen wurden bei auticon so gestaltet, dass vorhandene Stärken und Talente sich bestmöglich entfalten können."

René Stenz, LVR-Inklusionsamt

Nutzen übersteigt Aufwand

Mit der Beauftragung von Firmen wie auticon erhalten Auftraggeber also nicht nur fähige Consultants, sondern können gleichzeitig Nachhaltigkeitsregularien erfüllen, indem sie einen bestimmten Prozentanteil an Umsatz mit sogenannten disabled friendly companies nachweisen.

Gerwig präzisiert aus Sicht von auticon: „Wir verdienen unser Geld nicht für Shareholder, sondern investieren es in auskömmliche Gehälter.“ Was übrig bleibe, fließe in neue Arbeitsplätze, Weiterbildung oder Forschung, unter anderem in die Zusammenarbeit mit Hochschulen. Die Projekte reichen von der VR-gestützten Entwicklung von Strategien gegen Stress in Alltagssituationen bis zur Kooperation mit dem LVR-Klinikum in Düsseldorf bei der Supervision der Jobcoaches. All dies hat zum Ziel, Autisten beruflich weiterzuentwickeln und ihre Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt sowie in der Gesellschaft zu fördern.

Positives Kundenfeedback

Zögerlichen Arbeitgebern macht Gerwig Mut: „Setzen Sie sich mit dem Thema Autismus auseinander. Dann werden Sie schnell feststellen, dass Sie keine zusätzlichen Personalkapazitäten benötigen.“ Er rät, Autisten einen geschützten Raum ohne allzu viel Hektik und Ablenkung durch äußere Reize sowie gegebenenfalls Kopfhörer bereitzustellen.

Über zwei Dinge freut sich der Head of Operations besonders: wie vielen Menschen auticon bereits helfen konnte, im Berufsleben ihren Platz zu finden; und das wiederholte Kundenfeedback: „Hätten wir das nur früher gemacht!“

Diese Förderungen wurden gewährt

Die auticon GmbH erhielt seit 2013 folgende Förderungen vom LVR-Inklusionsamt:

1.

auticon erhielt durch das LVR-Inklusionsamt bzw. die beauftragte FAF GmbH eine betriebswirtschaftliche Beratung.

2.

4 Arbeitsplätze mit investiver Förderung von 10.320 Euro (2013)

3.

5 Arbeitsplätze mit investiver Förderung von 12.000 Euro (2016)

4.

Pauschale pro Beschäftigtem der Zielgruppe i.H.v. 300,- Euro/Monat für besonderen Aufwand

5.

Beschäftigungssicherungs-zuschuss nach § 27 SchwbAV in Höhe von 30 Prozent des Arbeitnehmerbruttogehaltes

Was sind eigentlich Inklusionsbetriebe?

  1. Inklusionsbetriebe sind Wirtschaftsunternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes, die einen besonderen sozialen Auftrag haben: die Beschäftigung, Qualifizierung und Vermittlung von Menschen mit einer Schwerbehinderung. Sie beschäftigen auf 30 Prozent bis 50 Prozent der Arbeitsplätze besonders betroffene Menschen mit einer Schwerbehinderung.
  2. Grundlagen für die Gründung von Inklusionsbetrieben sind §§ 215-218 SGB IX.
  3. Orientierung bieten die Empfehlung der BIH zur Förderung von Inklusionsbetrieben.
  4. Inklusionsbetriebe beschäftigen Menschen mit einer Schwerbehinderung, die aufgrund von Art und Schwere der Behinderung oder aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit oder weiteren vermittlungshemmenden Umständen (z. B. Alter, mangelnde Qualifikation) und trotz Ausschöpfens aller Fördermöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt besonders benachteiligt sind.
  5. Inklusionsbetriebe können drei unterschiedliche Organisationsformen haben: Inklusionsunternehmen, Inklusionsbetriebe, Inklusionsabteilungen

Bildergalerie

Alexander Metelmann am Laptop

Alexander Metelmann macht seinen Job gerne, Foto: Rupert Oberhäuser

Sonja Kleinert im Portrait

Sonja Kleinert ist die Vorgesetzte von Alexander Metelmann, Foto: Rupert Oberhäuser

Metelmann und Kleinert

Sie lobt die gute Zusammenarbeit, Foto: Rupert Oberhäuser

Sabine Koch im Portrait

Sabine Koch ist als Coachin für die autistischen Mitarbeiter da, Foto: Rupert Oberhäuser

Hermann Gerwig, Head of Operations bei auticon, Foto: privat

René Stenz im Portrait

René Stenz ist Teamleiter Integrationsprojekte beim LVR-Inklusionsamt, Foto: Rupert Oberhäuser 

Stenz, Koch und Kleinert im Gespräch

René Stenz (LVR-Inklusionsamt), Sabine Koch (Coachin), Sonja Kleinert (Vorgesetzte), Foto: Rupert Oberhäuser

Alexander Metelmann macht seinen Job gerne, Foto: Rupert Oberhäuser

Sonja Kleinert ist die Vorgesetzte von Alexander Metelmann, Foto: Rupert Oberhäuser

Sie lobt die gute Zusammenarbeit, Foto: Rupert Oberhäuser

Sabine Koch ist als Coachin für die autistischen Mitarbeiter da, Foto: Rupert Oberhäuser

Hermann Gerwig, Head of Operations bei auticon, Foto: privat

René Stenz ist Teamleiter Integrationsprojekte beim LVR-Inklusionsamt, Foto: Rupert Oberhäuser 

René Stenz (LVR-Inklusionsamt), Sabine Koch (Coachin), Sonja Kleinert (Vorgesetzte), Foto: Rupert Oberhäuser

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