Ein junger Azubi steht an einer Drehbank, er trägt eine Schutzbrille.

„Annehmen, anerkennen, aufgeschlossen sein“

Nadine Riesel-Schäfer, Fachreferentin für Autismus beim Bugenhagen Berufsbildungswerk (BBW), bereitet junge Autistinnen und Autisten auf eine Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt optimal vor. Sie sagt, die Einstellung von Autisten lohne sich. Ein Interview.

Zur Person

Nadine Riesel-Schäfer ist Aufnahmeleiterin und Fachreferentin Autismus und ADHS beim Bugenhagen Berufsbildungswerk. Mit der Weiterbildung zur Fachberaterin Autismus-Spektrum am Institut für Fortbildung, Beratung und Forschung in der Behindertenhilfe sowie der Zertifizierung zum aut.In-Coach hat sich die Diplom-Pädagogin auf die Betreuung von autistischen Menschen spezialisiert. Ergänzt werden diese Qualifikationen durch regelmäßige Weiterbildungen und Fachtage sowie insbesondere durch die Zusammenarbeit und den Austausch mit Autistinnen und Autisten.

Guten Tag, Frau Riesel-Schäfer. Warum kommen junge Menschen mit Autismus zu Ihnen und zum Berufsbildungswerk?

Riesel-Schäfer: Veränderungen wie der Beginn einer Ausbildung sind für autistische Personen mit sehr viel größeren Herausforderungen verbunden als für nicht autistische Menschen. Berufsbildungswerke bieten eine Möglichkeit, diesen Übergang gut vorzubereiten und zu begleiten. Interessierte nehmen in der Regel schon frühzeitig Kontakt zu uns auf. Als Fachreferentin Autismus und ADHS berate ich regelmäßig telefonisch, online und vor Ort zur Begleitung von Autistinnen und Autisten im Bugenhagen BBW. Wir möchten so ein klein wenig Vorhersehbarkeit ermöglichen, um den Stress, den auch der Übergang in ein BBW für Autistinnen und Autisten bedeuten kann, zu reduzieren.

Warum schaffen es viele Betroffene nicht, ohne zusätzliche Unterstützung eine Ausbildung in einem Betrieb am ersten Arbeitsmarkt zu absolvieren?

Eine pauschale Antwort gibt es natürlich nicht. Wie alle Menschen sind Autistinnen und Autisten sehr unterschiedlich und die Ausprägung von autistischen Symptomen ist sehr individuell. Aber nicht selten scheitern autistische Bewerberinnen und Bewerber bereits beim Vorstellungsgespräch. In vielen Bereichen treffen wir auf eine höhere Bewertung von weichen Faktoren gegenüber Sachkompetenz. Um in einem Bewerbungsgespräch bestehen zu können, bedarf es einer guten Kommunikationsfähigkeit sowie der Fähigkeit der Selbstvermarktung. Dies ist für Autistinnen und Autisten regelmäßig die erste Hürde.

Für mich ist es aber auch eine Frage der Perspektive. Sind es die individuellen autismusbedingten Besonderheiten, die als Schwäche gedeutet werden, wie beispielsweise eine mögliche schlechte Reizfilterung, Herausforderungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation oder Schwierigkeiten bei der Priorisierung von Aufgaben? Oder ist es vielmehr die Schwäche der Gesellschaft, der es bei der Integration von Autistinnen und Autisten nicht gelingt, durch ein gegenseitiges Verstehen die individuellen Stärken des Menschen zu erkennen?

Welche Methoden in der Ausbildung haben sich für Menschen aus dem Autismus-Spektrum besonders bewährt und wie unterstützen Sie die Betroffenen konkret?

Sicherheit und Vorhersehbarkeit sind für autistische Personen sehr wichtig, um Lernen und Arbeiten zu ermöglichen. Häufig erleben sie den Alltag und die Erwartungen, die an sie gestellt werden, als chaotisch und nicht logisch. Bei der Gestaltung unserer Prozesse orientieren wir uns an den Wahrnehmungsbesonderheiten von Autistinnen und Autisten. Wir arbeiten mit Strukturierung, Visualisierung, Reizreduktion und einer klaren Kommunikation. Hierbei orientieren wir uns unter anderem an dem TEACCH-Ansatz (siehe Infokasten). Wir bieten autistischen Personen in unserer Einrichtung eine Möglichkeit für das gemeinsame Entdecken und Fördern individueller Stärken, ohne die Herausforderungen zu ignorieren. Es geht darum, sprachfähig bezüglich der eigenen Stärken und Bedürfnisse sowie Expertin und Experte in eigener Sache zu sein. Beim Übergang in einen Betrieb, sei es für ein Praktikum oder eine Arbeitsstelle, unterstützen wir die autistische Person dabei, den Arbeitgeber über Autismus und die individuellen Bedürfnisse zu informieren. Erprobte Hilfsmittel wie Noise-Cancelling (durch geräuschreduzierende Kopfhörer) oder Ablaufpläne versuchen wir bei Bedarf gemeinsam in den betrieblichen Alltag zu integrieren. Als sehr hilfreich erleben wir es, wenn es im Unternehmen eine feste Ansprechperson gibt, die nicht nur für Fragen zur Verfügung steht, sondern auch zur Reflexion. Denn herausfordernd sind regelmäßig nicht die Aufgaben an sich, sondern die sozialen Prozesse.

Jede autistische Person hat individuelle Bedürfnisse. Gibt es dennoch grundsätzliche Erfolgskriterien oder Tipps für Arbeitgeber für eine gelingende berufliche Integration?

Offenheit ist ein Erfolgskriterium. Offen sein für die besondere Wahrnehmung von Autistinnen und Autisten. Annehmen und Anerkennen von ungewöhnlichen Lern-, Arbeits- und Lösungswegen. Aufgeschlossen sein für vielleicht notwendige Anpassungen bei Arbeitsprozessen und Arbeitsplätzen. Hier erhalten wir nicht selten die Rückmeldung von Betrieben, dass hiervon auch viele andere Mitarbeitende profitieren. Information und Wissen sind ebenfalls wichtige Faktoren. Das Einverständnis der autistischen Person vorausgesetzt, sollten Kolleginnen und Kollegen über die Besonderheit informiert sein, damit es nicht zu unnötigen Missverständnissen kommt, wenn sich zum Beispiel eine autistische Person nicht am Small Talk in der Teeküche beteiligt oder die Mittagspause lieber draußen verbringt, als mit allen in die volle Kantine zu gehen. Die schon benannte Vertrauensperson kann ebenfalls hilfreich sein.

„Ist es nicht vielmehr die Schwäche der Gesellschaft, der es bei der Integration von Autistinnen und Autisten nicht gelingt, durch ein gegenseitiges Verstehen die individuellen Stärken des Menschen zu erkennen?“
Nadine Riesel-Schäfer

Warum lohnt es sich für Arbeitgeber, Menschen mit Autismus zu beschäftigen?

Auch das ist sehr individuell. Aber wenn man Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber fragt, welchen Gewinn sie aus der Zusammenarbeit mit autistischen Mitarbeitenden haben, dann fallen Stichworte wie Sachorientierung, Genauigkeit oder auch ein guter Blick fürs Detail. Auch hören wir immer wieder, dass die Ausdauer autistischer Personen sehr geschätzt wird. Eintöniges wird von ihnen nicht so schnell als langweilig empfunden und sie können sehr gut allein arbeiten. Häufig erweisen sich autistische Mitarbeitende als besonders loyal, auch wird ihre Ehrlichkeit gelobt. Manche Betriebe erzählen uns, dass sie die ungewöhnlichen Perspektiven, die ungewöhnliche Kreativität großartig finden und diese für sich gut nutzen können.

Gibt es eine Erfolgsgeschichte, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

In meinen bisher zwölf Jahren hier im BBW durfte ich die kleinen und großen Erfolge unserer Absolventinnen und Absolventen miterleben. Da gibt es vieles, was in Erinnerung bleibt. Ich kenne sehr viele autistische Menschen seit ihrem ersten Informationsgespräch bei uns im Haus. Von diesem Moment bis zum Tag der Freisprechung vergehen mit Berufsvorbereitung und Ausbildung vier Jahre. In diesen Jahren findet so viel Entwicklung statt. Ich empfinde es als Geschenk, dass wir diese begleiten dürfen. Deswegen gibt es für mich nicht DIE eine Erfolgsgeschichte, sondern ganz viele, an die ich mich gern zurückerinnere.

TEACCH – was ist das?

TEACCH (Treatment and Education of Autistic and related Communications Handicapped Children) ist eine strukturierte Form visuellen Lernens, die speziell für Menschen im Autismus-Spektrum entwickelt wurde, um diese beim Lernen zu unterstützen und ihnen ein möglichst selbstständiges Leben zu ermöglichen.

Gütesiegel „Autismusgerechtes Berufsbildungswerk“

Lange fanden die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Autismus in Berufsbildungswerken keine flächendeckende Berücksichtigung. Das lag unter anderem daran, dass Autismus zu der Zeit noch wenig bekannt und unterdiagnostiziert war. Das hat sich mittlerweile auch dank umfangreicher Forschungsarbeit verändert. Entsprechend gründete die Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke 2015 den Fachausschuss Autismuskompetenz. Dieser entwickelte verbindliche Qualitätskriterien für autismusgerechte BBWs, um einen gemeinsamen, hohen Standard festzulegen. Mit dem Interessenverband autismus Deutschland wurde dann ein Zertifizierungsverfahren erarbeitet. Im Zertifizierungsprozess müssen Berufsbildungswerke zurzeit in über 60 Kriterien nachweisen, dass sie in besonderer Weise für die Berufsvorbereitung, Ausbildung und Integration von jungen Menschen aus dem Spektrum geeignet sind. Das Bugenhagen Berufsbildungswerk wurde als drittes BBW bundesweit mit dem Gütesiegel zertifiziert und 2022 erfolgreich rezertifiziert.

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