Technische Beratung der Zukunft
Im Januar trafen sich die Technischen Beraterinnen und Berater der Integrations- und Inklusionsämter zu einem dreitägigen Strategieworkshop. Ziel war es, aktuelle Herausforderungen zu diskutieren und die Zukunft der technischen Beratung für Menschen mit Behinderung strategisch festzulegen.
„Ich spreche immer und überall über unseren Technischen Beratungsdienst. Wir haben damit ein ganz ausgezeichnetes Instrument, um das uns andere Rehaträger beneiden.“
Gut 60 technische Beraterinnen und Berater und mehr als 20 Personen aus dem BIH-Vorstand, den BIH-Ausschüssen und -Arbeitskreisen sowie Leitende der Integrations- und Inklusionsämter kamen Anfang Januar 2024 auf den Michaelsberg nach Siegburg, um sich hoch über der Stadt in der früheren Benediktinerabtei über Ergebnisse und Trends aus Forschung und Praxis zu informieren und die entsprechenden Auswirkungen auf die eigene Beratungstätigkeit zu diskutieren.
Vor dem Hintergrund der technischen Entwicklung in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Assistenzsysteme standen die Fragestellungen „Wo stehen wir?“ und „Wo wollen wir hin?“ im Fokus der Tagung. Wie BIH-Vorstand Christoph Beyer in seiner Begrüßungsrede sagte, müsse der Technische Beratungsdienst (TBD) mit der technischen Entwicklung Schritt halten – auch wenn sich diese in immer kürzeren Zyklen erneuere.
Dass dies auch neue Möglichkeiten biete, betonte Frank Schrapper, Vorsitzender des Arbeitsschuss TBD: „Für Menschen mit Behinderung, Arbeitgebende und den TBD besteht die Aussicht auf ein ganz neues Feld der behinderungsgerechten Arbeitsplatzausstattung. Mit digitalen Assistensystemen und dem weiteren Ausbau von KI können wir auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen unterstützen“, so Schrapper.
In verschiedenen Vorträgen und Workshops wurden drei Tage lang die Zukunftsthemen der technischen Beratung diskutiert und betrachtet.
Im Fokus: Kompass für KI-basierte Software und Assistenzsysteme
Künstliche Intelligenz ist derzeit das Buzzword schlechthin. Wie KI für den TBD genutzt werden kann, wurde am ersten Konferenztag erörtet. So berichteten beispielsweise Barbara Lippa (Bundesverband Deutscher Berufsförderungswerke) und Verena Anton (Bundesarbeitsgemeinschaft Berufsbildungswerke). Die beiden Frauen arbeiten im Projekt KI-Kompass Inklusion aus Berlin. Am Kompetenzzentrum für KI-Assistenztechnologien und Inklusion in der Arbeitswelt untersuchen die zwei Projektleiterinnen,
- welche KI-gestützten Assistenzsysteme für Menschen mit Behinderung relevant sind,
- wie und wo sich diese einsetzen lassen und
- welche Hürden es für den Einsatz relevanter Systeme gibt.
Zudem soll das Projekt Menschen mit Behinderung, Leistungsträger der beruflichen Rehabilitation, Unternehmen und Behörden sowie weitere Involvierte bei der Einführung von KI-gestützten Assistenzsystemen informieren, beraten und unterstützen, um Menschen mit Behinderungen besser am Arbeitsleben teilhaben zu lassen.
Es wurden 157 KI-Assistenztechnologien untersucht. Diese adressierten gut drei Viertel der verschiedenen Behinderungsarten. Die Anwendungen unterstützen beispielsweise bei Angst- und Emotionsstörungen, bei der Navigation per Chatbot, beim Lernen bis hin zum Stressmanagement.
Aktuell gibt es jedoch noch viele Hürden für den Einsatz von KI-assistierten Systemen – seien es die begrenzte Anzahl an bereits fertig entwickelten Software-Projekten, die hohen Anforderungen an IT-Kenntnissen im Betrieb oder der Mangel an IT-Fachkräften. Dazu kommt, dass die Technik neue Barrieren aufbauen kann, wenn sie etwa nicht intuitiv bedienbar ist, zumal KI-Entwickler selten die Bedarfe von Anwendenden mit Behinderung kennen. Außerdem können Datenschutzregelungen Hürden bei der Implementierung im Betrieb schaffen und so dazu führen, dass vorhandene Funktionen der Software nur eingeschränkt nutzbar sind oder dass sensible Daten in anderen Anwendungsprogrammen mit zusätzlichem Aufwand geschützt werden müssen, weil die Assistenzsoftware andernfalls darauf zugreifen könnte.
Technische Beraterinnen und Berater müssen all diese verschiedenen Aspekte künftig auf dem Schirm haben, wenn sie ihre Klientel über den Einsatz von KI-basierten Assistenzsystemen beraten.
Technische Beraterinnen und Berater müssen viele verschieden Aspekte auf dem Schirm haben, wenn sie ihre Klientel über den Einsatz von KI-basierten Assistenzsystemen beraten.
Im Fokus: Technik folgt Mensch
Im Impulsvortrag von Prof. Dr. Carsten Röcker vom Institut für industrielle Informationstechnik an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe (inIT) ging es um digitale Assistenzsysteme (DA) in der Industrie. Trotz steigender Komplexität im industriellen Umfeld können DA dank zunehmender, eigener kognitiver Fähigkeiten dazu beitragen, dass Menschen die allgemein als belastend erlebte Komplexität weniger stark wahrnehmen. Künstliche Intelligenz mache durch menschenzentrierte Systemanalyse und technologiegestützte Assistenz schon heute Inklusion an Industriearbeitsplätzen möglich. Prof. Dr. Röcker zeigte an einem Beispiel, wie Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen an einem komplexen Montagearbeitsplatz in der Elektroindustrie durch Werkzeugüberwachung und -steuerung sowie interaktive Montageschrittführung eigenständig tätig sein können.
Exoskelette verleihen keine Superkräfte
Einen Überblick über das Assistenzsystem Exoskelett (siehe Infobox) und die gut 100 verfügbaren Modelle am Markt gaben Dr. Urs Schneider und Verena Kopp vom Fraunhofer Institut für Automatisierungstechnik, kurz IPA. Das Fraunhofer IPA in Stuttgart ist das zweitgrößte Fraunhofer-Forschungszentrum in Deutschland. Zu Ergonomie und Exoskeletten laufen bundesweit 60 Projekte in verschiedenen Branchen von A wie Automotive über L wie Landwirtschaft bis V wie Versand.
Zielsetzung dieser Projekte ist es, körperliche Arbeit in jedem Alter gesund und leistbar zu gestalten. Gut ein Viertel aller Erwerbstätigen ist von gesundheitlichen Einschränkungen des Bewegungsapparats betroffen – vor allem durch Rücken-, Knie-, Schulter- und Handgelenkschmerzen. Im Jahr 2022 gingen nach der Bundesanstalt für Arbeitsschutz- und Arbeitsmedizin 681,2 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage auf das Konto von Muskel- und Skeletterkrankungen. Das entsprach einem Ausfall an Bruttowertschöpfung von 37,7 Milliarden Euro. Obwohl in bestimmten Tätigkeitsfeldern, etwa beim rückenschonenden Heben in der Verkehrslogistik oder beim Überkopf-Arbeiten in der Montage, im Bauhandwerk oder beim Schweißen Exoskelette eingesetzt werden, ist ihr präventiver Nutzen aufgrund der mangelnden Studienlage in Deutschland noch immer umstritten. Dass das Herzkreislaufsystem von Schweißerinnen und Schweißern durch ein Exoskelett entlastet wird und sich als Folge der Entlastung auch die Qualität der Schweißnähte verbessert, hat das IPA bereits nachweisen können.
Was fehlt, ist eine Langzeitstudie über sinnvolle Anwendungen vor allem in der Primärprävention – sprich zum Vorbeugen von Krankheiten. Denn „Schäden an Gelenken und Muskeln, die im Alter von 40 Jahren auftreten, werden bereits in der Jugend erworben“, so Dr. Urs Schneider zu Erkenntnissen der Forschung über den Entstehungsprozess von Muskel-/Skeletterkrankungen. Daher sollten Exoskelette auch und gerade von der Gruppe der 20- bis 40-Jährigen getragen werden, plädiert Dr. Schneider. So können nicht nur Krankheiten vermieden und die Leistungsfähigkeit gesteigert werden. Bei einem konsequenten Einsatz in der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention reduziere sich der wirtschaftliche Schaden analog zum Erhalt der Gesundheit ganz erheblich.
Was ist denn ein Exoskelett?
Ein Exoskelett ist ein am Körper getragenes Stützsystem, das den Menschen bei der Erzeugung der für manuelle Aufgaben erforderlichen physischen Energie unterstützt. Entweder passiv durch Federdämpfungen und elastische Bänder, die beim Wiederaufrichten oder dem Verharren in gebeugter Haltung helfen, oder aktiv per externer Energiezufuhr beziehungsweise elektromechanisch.
Exoskelette können nützlich sein, wenn andere präventive Maßnahmen nicht realisierbar, nutzbar oder effektiv sind oder die Automatisierung wechselnder Tätigkeiten – etwa das Entladen loser Ladungen aus Containern oder die Behandlung von Patienten – nicht möglich ist.
Bildergalerie
Mehr zum TBD
... finden Sie auf der Website der BIH.
Weitere Artikel dieser Ausgabe
- Editorial
- Vertrauensvoll, authentisch, BEM – unsere Titelgeschichte
- BEM? Was ist das eigentlich?
- Leichte Sprache
- TBD der Zukunft
- Kurz notiert …
- Vom Leben gezeichnet …
- Aktuelles Urteil: Behinderungsgerechte Tätigkeit
- Aktuelles Urteil: Gleichstellung
- Aktuelles Urteil: Zusammenfassung von Dienststellen
- Umfrage Digitalmagazin
- Ausblick