Assistenz für alle Fälle

Das Instrument der Arbeitsassistenz ist ein wichtiger Baustein zur Teilhabe am Arbeitsleben. Das zeigt auch das Beispiel des Physiotherapeuten Dimitrios Belokas. Der Mittelfranke ist fast blind und hätte ohne die Unterstützung des Integrationsfachdienstes und des ZBFS-Inklusionsamts den Sprung in die Selbstständigkeit vielleicht nicht gewagt.

Dimitrios Belokas in seiner Physiotherapie-Praxis.

Dimitrios Belokas lebt mit einer starken Sehbehinderung. „Im Zentrum meines Gesichtsfelds sehe ich nichts mehr – ich habe einen Gesichtsfeldausfall. Lediglich an den Rändern ist noch ein wenig zu erkennen. Wenn die Farben sehr kräftig sind, kann ich auch die noch unterscheiden“, sagt der 37-Jährige. Das war nicht immer so. Belokas ist im Norden Griechenlands groß geworden. Beim Eintritt in die Grundschule attestierten Ärzte dem damals Sechsjährigen eine Beeinträchtigung der Sehfähigkeit. Eine weitere Untersuchung bei einem Augenarzt zeigte, dass Belokas an der juvenilen Makuladegeneration litt. Mit fortschreitendem Alter führt diese Augenkrankheit zu einem Funktionsverlust der Sehzellen, die für das scharfe Sehen zuständig sind. Die Folge: Die zentrale Sehschärfe lässt immer weiter nach und führt zu hochgradigen Sehbehinderungen und Blindheit.

„Der Augenarzt hatte in Deutschland studiert und dort auch das Schulsystem für Menschen mit Sehbehinderungen kennengelernt. Er empfahl meinen Eltern, nach Deutschland umzusiedeln“, erzählt Belokas. Tatsächlich ist daraufhin die griechische Kleinfamilie in die bayerische Landeshauptstadt München gezogen, um dem einzigen Kind, trotz seiner Einschränkung, eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Nach dem Besuch der Schule für Sehbehinderte in Unterschleißheim bei München schloss der damals 22-Jährige im Jahr 2007 eine Ausbildung zum Physiotherapeuten in Nürnberg ab – dort gibt es eine spezielle Berufsschule für Menschen mit Sehbehinderung und Blinde.

Belokas wird Abteilungsleiter

In der Folgezeit arbeitete Belokas in verschiedenen Praxen. „Das war damals keine einfache Zeit – es gab nicht so viele Stellenangebote. Und dann sollten Therapeuten auch Hausbesuche machen, was für mich ja nicht in Frage kam“, erzählt er. Trotzdem hat sich der Therapeut von Stelle zu Stelle verbessert, bis er 2013 eine Stelle im Krankenhaus Schwabach antrat. Dort arbeitete er mit akuten Fällen aus der Klinik, aber auch mit ambulanten Patientinnen und Patienten.

Belokas machte in den folgenden Jahren wichtige Weiterbildungen in seinem Beruf, bis er 2017 zum Leiter der physiotherapeutischen Abteilung im Krankenhaus berufen wurde. Ab diesem Zeitpunkt musste sich der Physiotherapeut zum ersten Mal in seiner Berufslaufbahn mit der Verwaltung und Organisation eines Teams von 14 Mitarbeitenden auseinandersetzen – Erfahrungen, die ihm heute in seiner Selbstständigkeit noch helfen.

„Herr und Frau Belokas sind beide super aufgeweckte, intelligente junge Menschen und tolle Physiotherapeuten.“
Klaus Weber, IFD Mittelfranken

Das Paar will eine eigene Praxis gründen

Das war auch die Zeit, als Belokas anfing, sich mit einer behinderten­gerechten Arbeits­platz­aus­stattung zu beschäftigen. „Irgendwann reichte der kleine Monitor meines Handys nicht mehr, wenn man sich zum Beispiel mit großen Einsatz- und Urlaubsplänen auseinandersetzen muss“, sagt er. Daraufhin gab es die erste Arbeitsplatzausstattung mit einer intelligenten Kamera, die Dokumente fotografiert und vorliest sowie einen großen Monitor mit Schwenkarm.

Seine Frau, die im gleichen Beruf arbeitet und auch mit einer starken Sehbehinderung lebt, suchte nach der Elternzeit des zweiten Kindes neue Herausforderungen. „Wir haben schon sehr oft mit dem Gedanken gespielt, uns mit eigener Praxis selbstständig zu machen“, sagt Belokas. 2019 konnte dann der Lebenstraum der beiden Physiotherapeuten mit Hilfe des Integrationsfachdienstes Mittelfranken und des Inklusionsamtes umgesetzt worden.

Im Integrationsfachdienst sitzt ein Experte

Klaus Weber vom Integrationsfachdienst (IFD) Mittelfranken in Nürnberg erinnert sich noch gut an das erste Treffen mit den beiden Physiotherapeuten im Juni 2019. „Belokas und seine Frau sind beide super aufgeweckte, intelligente junge Menschen und tolle Physiotherapeuten“, sagt der Sozialpädagoge. Den angehenden Existenzgründern sei es vor allem darum gegangen, eine Anlaufstelle zu haben, die ihnen bei der Verwirklichung ihrer Selbstständigkeit unterstützt und berät, erzählt der 57-Jährige. Da war der IFD Mittelfranken genau der richtige Partner, denn seit mehr als 20 Jahren arbeitet Weber hauptamtlich beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB). Der Verein versteht sich als Selbsthilfeorganisation und Interessenvertretung der in Bayern lebenden blinden und sehbehinderten, taubblinden und hörsehbehinderten Menschen.

Der BBSB ist Mitgesellschafter der IFD gGmbH, die vier Integrationsfachdienste in Franken, Schwaben und der Oberpfalz betreibt. Mit Einführung des IX. Sozialgesetzbuchs im Jahr 2001 hat der BBSB teils die Arbeit der Integrationsdienste übernommen. Heute ist Weber im Rahmen seiner Tätigkeit für den Integrationsfachdienst für alle Menschen mit Behinderung, für den BBSB für Menschen mit Sehbehinderungen und Blinde zuständig. Für den ratsuchenden Physiotherapeuten Belokas ein Glücksfall, hatte er doch beim Ansprechpartner des Integrationsfachdienstes gleichzeitig einen Experten in Blindenfragen gefunden.

Arbeitsassistenz wird genehmigt

Thema der ersten Informationsstunde war dann die Arbeitsassistenz, wie sich Weber erinnert. Mit diesem Instrument unterstützen die Inklusions- und Integrationsämter bundesweit Menschen mit Behinderungen mit der Finanzierung von Assistenten. Weber hat eine klare Meinung: „Ein blinder oder schwer sehbehinderter Physiotherapeut macht seine Arbeit genauso gut wie ein nichtbehinderter. Lediglich die Vorbereitungen der Behandlung, die Dokumentation oder die Verwaltung können seine Arbeit beeinträchtigen“, sagt er. Hier könne eine Arbeitsassistenz unterstützen und den Nachteil zu seinen Mitbewerbern ausgleichen. Seine Aufgabe sei es – auch mit einer fachdienstlichen Stellungnahme gegenüber dem ZBFS-Inklusionsamt in Nürnberg – herauszufinden, wie hoch der individuelle Assistenzbedarf sei, sagt Weber.

Der Antrag landete im Sommer 2019 auf dem Schreibtisch von Peter Biller vom ZBFS-Inklusionsamt. Hier ist Biller seit sechseinhalb Jahren neben der Existenzgründung und technischen Arbeitshilfen für die Bearbeitung von Anträgen zur Arbeitsassistenz zuständig. Vorher war Biller im Feststellungsverfahren – da geht es um die Festsetzung des Grads der Behinderung. Am Anfang habe er sich etwas schwergetan, weil die neue Aufgabe doch viel mit Zahlen und Berechnungen zu tun habe, erzählt der 52-Jährige. Aber je länger Biller jetzt dabei ist, desto besser gefällt ihm sein Job. Das hänge auch mit den Erfolgsgeschichten, wie die von Dimitrios Belokas, zusammen. „Wenn da was bei rumkommt am Ende des Tages, macht einen das zufrieden“, sagt er.

„Alles richtig gemacht“

2019 genehmigte Biller – nach intensiver Rücksprache mit Weber vom Integrationsfachdienst – dem Existenzgründer Belokas eine Arbeitsassistenz von zehn Stunden in der Woche. Damit stand der Gründung einer eigenen Praxis nichts mehr im Wege. Zudem habe Belokas 2019 vom Inklusionsamt einen Existenz­gründungs­zuschuss erhalten, den er dann zuletzt gar nicht mehr ausschöpfen wollte, weil es wirtschaftlich so gut gelaufen sei. „Alles richtig gemacht," freut sich Biller.

In Schwabach, 25 Kilometer südlich von Nürnberg, führt Dimitrios Belokas jetzt seit drei Jahren erfolgreich seine Praxis mit einem festangestellten Therapeuten in Vollzeit, der Halbtagsstelle seiner Frau und zwei Halbtagsstellen für die Organisation und die Verwaltung. Eine der Rezeptionistinnen arbeitet die Hälfte ihrer Arbeitszeit als Arbeitsassistenz.

Belokas moderiert jetzt Existenzgründungsseminare

In diesen zehn Stunden in der Woche unterstützt sie Belokas mit dem Vorlesen der Diagnosen und Befunde. Dann diktiert Belokas die Dokumentation seiner Patienten in ein Spracherkennungssystem. „Das muss durchgehend korrigiert werden – auch eine Aufgabe für meine Arbeitsassistenz, weil das für mich einen hohen Arbeitsaufwand bedeuten würde“, sagt der Existenzgründer. Aber auch bei der Bedienung von Geräten in der Praxis, wie dem Elektrotherapiegerät mit Touchscreen, und der Vorbereitung der Behandlungszimmer hilft die Arbeitsassistenz. „Wenn ich einen Hausbesuch machen muss, üben wir zusammen den Weg ein“, sagt er. Belokas weist darauf hin, dass er viele Aufgaben, bei denen seine Arbeitsassistenz ihn unterstützt, auch selbst erledigen könne. „Aber es bedeutet für mich einen großen Zeitaufwand, und das wäre ein Nachteil im Vergleich zu meinen Mitbewerbern im Markt“. Ohne die Genehmigung der Arbeitsassistenz hätte der Therapeut den Sprung in die Selbstständigkeit nicht gewagt, erklärt er. Auch deshalb ist er den Experten Weber und Biller sehr dankbar, die 2019 seine Situation schnell und richtig eingeschätzt hätten. Aktuell bereitet sich Belokas nebenbei auf ein Seminar zur Existenzgründung vor, das die Fachgruppe „Arbeit und Beruf“ der ehrenamtlichen Mitarbeiter des BBSB angedacht hatte. Weber fragte damals den erfolgreichen Therapeuten als Moderator an – Belokas hat dann sofort zugesagt.

Bildergalerie

Dimitrios Belokas mit einer Patientin im Sportraum der Praxis.

Dimitrios Belokas mit einer Patientin im Sportraum der Praxis. Er zeigt der Patientin Übungen und prüft die Ausübung durch sachte Berührungen.
© Rupert Oberhäuser

Dimitrios Belokas demonstriert eine Übung mit einem gelben Thera-Band.

Dimitrios Belokas demonstriert eine Übung mit einem gelben Thera-Band.
© Rupert Oberhäuser

Belokas begrüßt Klaus Weber vom IFD Mittelfranken im Empfangsbereich seiner Praxis.

Belokas begrüßt Klaus Weber vom IFD Mittelfranken im Empfangsbereich seiner Praxis.
© Rupert Oberhäuser

Belokas und Weber besprechen sich an einer Physioliege – laut dem Experten vom IFD ein häufiger Besprechungsort in Physiotherapiepraxen.

Belokas und Weber besprechen sich an einer Physioliege – laut dem Experten vom IFD ein häufiger Besprechungsort in Physiotherapiepraxen.
© Rupert Oberhäuser

Belokas in seiner Praxis.

Belokas in seiner Praxis. Der 37-jährige kann noch einige Umrisse und sehr starke Farben erkennen.
© Rupert Oberhäuser

Klaus Weber vor der Praxis.

Weber vom IFD Mittelfranken ist öfter in Physiopraxen unterwegs, da es in diesem Berufsfeld einige Blinde und Menschen mit Sehbehinderung gibt.
© Rupert Oberhäuser

Belokas liest mit der Bildschirmlupe in starker Vergrößerung am Bildschirm.

Belokas liest mit der Bildschirmlupe in starker Vergrößerung am Bildschirm. Vorlesen ginge aber schneller, sagt er.
© Rupert Oberhäuser

Bei den Dreharbeiten zum Film wurde die Praxis teilweise umgestellt, trotzdem lacht Belokas.

Bei den Dreharbeiten zum Film wurde die Praxis teilweise umgestellt. Belokas nahm es mit Humor.
© Rupert Oberhäuser

Foto von acht Zertifikaten, die bei Belokas an der Wand hängen.

Der Physiotherapeut hat eine Vielzahl von Zusatzausbildungen und -zertifizierungen.
© Rupert Oberhäuser

Dimitrios Belokas mit einer Patientin im Sportraum der Praxis. Er zeigt der Patientin Übungen und prüft die Ausübung durch sachte Berührungen.
© Rupert Oberhäuser

Dimitrios Belokas demonstriert eine Übung mit einem gelben Thera-Band.
© Rupert Oberhäuser

Belokas begrüßt Klaus Weber vom IFD Mittelfranken im Empfangsbereich seiner Praxis.
© Rupert Oberhäuser

Belokas und Weber besprechen sich an einer Physioliege – laut dem Experten vom IFD ein häufiger Besprechungsort in Physiotherapiepraxen.
© Rupert Oberhäuser

Belokas in seiner Praxis. Der 37-jährige kann noch einige Umrisse und sehr starke Farben erkennen.
© Rupert Oberhäuser

Weber vom IFD Mittelfranken ist öfter in Physiopraxen unterwegs, da es in diesem Berufsfeld einige Blinde und Menschen mit Sehbehinderung gibt.
© Rupert Oberhäuser

Belokas liest mit der Bildschirmlupe in starker Vergrößerung am Bildschirm. Vorlesen ginge aber schneller, sagt er.
© Rupert Oberhäuser

Bei den Dreharbeiten zum Film wurde die Praxis teilweise umgestellt. Belokas nahm es mit Humor.
© Rupert Oberhäuser

Der Physiotherapeut hat eine Vielzahl von Zusatzausbildungen und -zertifizierungen.
© Rupert Oberhäuser

Arbeitsassistenz – auch was für mich?

Die Arbeitsassistenz ist eine arbeitsplatzbezogene Unterstützung für schwerhinderte Menschen, damit sie ihre arbeitsvertraglichen Pflichten erfüllen können. Ziel ist eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das Integrationsamt steuert die Bewilligung von Leistungen zur Arbeitsassistenz. Mehr dazu, auch die rechtlichen Grundlagen und Verfahren, finden Sie im Fachlexikon A–Z, Stichwort „Arbeitsassistenz“.

Eine BIH-Empfehlung zum Thema gibt ausführlicher Einblick in Tätigkeiten und den Bewilligungsprozess. Diese gibt es auf der Website der BIH zum Herunterladen.

Diesen Artikel finde ich:

Danke für Ihre Bewertung!

Das könnte Sie auch interessieren


Physiotherapeutin Cathleen Kaltofen behandelt einen Patienten. Der Patient steht im seitlich neben Cathleen Kaltofen und drückt seinen erhobenen linken Arm gegen die ausgestreckte Hand der Physiotherapeutin.
Schwerpunkt

Arbeitgeber: Gut beraten

Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels spielen gut qualifizierte Menschen mit Behinderung eine wichtige Rolle. Arbeitgeber erhalten für ihre Beschäftigung Förderleistungen der Integrationsämter – individuell und unkompliziert.

Das Ehepaar Leubner steht vor ihrem Hofschild "Camping auf dem Bauernhof"
Reportage

Ferien auf dem Bauernhof

Vor zwanzig Jahren stand er vor dem Aus. Jetzt kann Wolfgang Leubner seinen Job als Landwirt und Campingplatzwart ausüben – mit seiner Behinderung. Unser Beispiel aus der Oberlausitz zeigt, was möglich ist, wenn man nach individuellen Lösungen sucht.

Andrea Winnerl im Flur ihres Büros bei der Fraport AG
Reportage

Aussichtsreiche Perspektiven

Andrea Winnerl arbeitet seit mehr als 30 Jahren bei der Fraport AG, dem Betreiber des Frankfurter Flughafens. Die blinde Frau hat sich im Job immer wieder neue Herausforderungen gesucht und erfolgreich gemeistert.