»Gesetzlich verankertes Frühwarnsystem«
magdalena.mayer hat geschrieben:BVerwG v. 04.09.2012, 6 P 5.11
Im Gesetz steht absolut nichts von
einem halben Jahr, auch nichts im
Leitsatz des BVerwG...
... und auch nichts in der Begründung des BVerwG, sondern lediglich im Antrag und Tenor. Das BVerwG war nun mal an den recht ungeschickten PR-Antrag (mit einer gesetzlich nicht normierten zusätzlichen "Reaktionszeit" bis zu ½ Jahr)
gebunden, prozessrechtlich durfte es diesen zeitlich gar nicht unterschreiten. Vgl.
§ 88 VwGO zur Bindung an das Klagebegehren, über das die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht hinausgehen darf. Folglich gibt der Tenor des Beschlusses des BVerwG vom 04.09.2012 insoweit den Klageantrag der Rechtsbeschwerde wortidentisch wieder und mitnichten deshalb, weil die Bundesrichter solche überlangen Reaktionszeiten von bis zu ½ Jahr für ausreichend erachtet hätten. Denn das Gericht ist nun mal
nicht befugt, etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist nach dem in § 88 VwGO enthaltenen römisch-rechtlichen Grundsatz
»ne ultra petita« Ebenso
BAG, 17.03.2015, 1 ABR 49/13, B.I.1, Rn.
9 m.w.N. zum BEM wie folgt:
"Nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist ein Gericht nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was nicht beantragt ist."
Prof. Dr. Petri hat geschrieben:Petri: Das BVerwG geht hier von einem flexiblen Zeitrahmen aus und hält insoweit eine Mitteilung 'mindestens halbjährlich' für ausreichend.
Die h.M. und BIH*) lehnen die aus der Luft gegriffene völlig haltlose These zum „flexiblen Zeitrahmen“ von Petri ab. BEM-Fälle erst nach 6 Monaten zu ermitteln - das ist in aller Regel bei einem präventiven Verfahren wie dem BEM ein Widerspruch in sich. Denn Ziel des BEM ist „frühzeitige Klärung“ laut BVerwG und BAG. Petri mag Experte des Datenschutzrechts sein – das Prozessrecht scheint ihm aber weniger zu liegen, da völlig daneben. Ein Blick in die VwGO wäre hilfreich sowie naheliegend gewesen. Ein derartiger „Unsinn“ kann dem BVerwG nicht einfach unterstellt werden:
Das
BVerwG hat keine solche amtlichen
Leitsätze geprägt, nicht am 04.09.2012 und auch sonst nicht, dass es davon ausginge. Dieses ist prozessrechtlich völlig haltlos laut h.M. sowie ständiger Rspr. Vgl. dazu auch
Wikipedia zum BEM.
Das BVerwG hat vor allem aber niemals
Rechtssätze des Inhalts aufgestellt bzw. an keiner Stelle formuliert, dass es beim BEM einen "flexiblen Zeitrahmen" gäbe und dass beim BEM "halbjährliche" Auswertung bzw. Unterrichtung des Personalrats nach LPVG NW "ausreichend" wäre: Es hat sich dazu schlicht ausgeschwiegen und hat sich mit dieser Frage nicht befasst. Eine derartige "Interpretation", die ohnehin wenig mit dem Inklusionsziel am Arbeitsplatz noch mit der deutlichen Stärkung des Präventionsgedankens durch das Bundesteilhabegesetz zu tun hat (
Düwell/Beyer, Das neue Recht für behinderte Beschäftigte), ist u.a. schon deswegen ausgeschlossen, da der gleiche Sechste Senat des
BVerwG per Beschluss vom 23.06.2010, 6 P 8.09, Rn. 66, auf den er mehrfach verwies, feststellte:
BVerwG / BAG hat geschrieben:Ziel des betrieblichen Eingliederungsmanagements ist die frühzeitige Klärung, ob und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um eine möglichst dauerhafte Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses zu fördern.
(BVerwG, 23.06.2010, 6 P 8.09, Rn. 66;
BAG, 30.09.2010, 2 AZR 88/09, Rn. 34)
Ebenso mehrfach
*
LAG München,
*
BMAS („
frühzeitig Kontakt“),
*
ZBFS Bayern („
frühzeitig handeln“),
*
DBB Beamtenbund („
frühzeitig geklärt“) uva:
• Das BVerwG hat vielmehr gezielt u.a. auch auf BAG, 07.02.2012, 1 ABR 46/10, verwiesen, wonach der Arbeitgeber zur
quartalsweisen Unterrichtung verpflichtet wurde - wie beantragt; die gegen BAG eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde vom
BVerfG, 25.03.2015, 1 BvR 1418/12, nicht zur Entscheidung angenommen
(
CuA 5/2017, Seite 16/17, Fußnote 10).
• Das BVerwG hat ausdrücklich auch auf
VG Oldenburg, 03.05.2011, 8 A 2967/10, verwiesen, wonach die Dienststelle in Niedersachsen - wie beantragt, zu einer
unverzüglichen Unterrichtung verpflichtet wurde - und hat diesen Punkt nicht etwa infrage gestellt: "Wink mit dem Zaunpfahl" aus Leipzig an Personalräte, Dienststellen und Instanzengerichte?
• Ebenso im Ergebnis
ArbG Berlin, Urteil vom 29.01.2009, 33 Ca 16090/08, nach dessen Leitsatz das BEM gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX zeitlich einsetzt,
sobald ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig krank war, und nicht erst nach bis zu sechs Monaten Erfassungs- bzw. Auswertungszeit. In die gleiche Richtung z.B. Prof. Dr.
Kohte im DVfR-Fachforum,
Grauvogel, Vizepräsident des LAG Bremen a.D., BEM-Leitfaden für das Land
TH, Datenschutzzentrum für das Land
SH sowie
AGSV Polizei NW, da nur so das Ziel, "umgehend zu klären", erreicht werden könne, und viele andere. Gleichfalls
Düwell/Beyer, Das neue Recht für behinderte Beschäftigte, Rn. 204, wonach der Arbeitgeber tätig werden muss, "sobald die Sechswochenfrist erfüllt ist", sowie Düwell, LPK-SGB IX, § 84 Rn. 87, und Knittel, SGB IX, § 84 Rn 105. Ebenso
Kohte zum rechtlichen Rahmen des BEM.
• Ebenso
Reuter ua, wonach "zeitnah" zu erfassen ist, sowie
Haufe, Personal Office Premium, wonach wenigstens
monatlich*) zu erfassen und "zeitnah" Kontakt aufzunehmen ist, sowie Sandra
Wullenkord, Arbeitsrechtliche Kernfragen des BEM in der betrieblichen Praxis 2014, Seite 86 m.w.N. (für
SBV = Seite 143), dass und warum 3 Monate nicht ausreichend sind:
"Um eine zeitnahe Einleitung des BEM zu gewährleisten, hat der Arbeitgeber die betriebliche Interessenvertretung unverzüglich zu benachrichtigen (LAG München v. 24.11.2010, 11 TaBV 48/10, juris, Rz. 15/69). Die BEM-Pflicht des Arbeitgebers entsteht, sobald die Voraussetzungen für ein Klärungsverfahren vorliegen. Bereits zu diesem Zeitpunkt muss der Betriebsrat bereits seine Überwachungsaufgabe ausüben können, was nur dann der Fall ist, wenn ihm die Namen der BEM-Kandidaten zeitnah mitgeteilt werden. Zwar wird in der Praxis teilweise eine quartalsweise Benachrichtigung des Betriebsrats vereinbart. Dies ist jedoch in der Regel für eine rechtzeitige Einleitung des BEM nicht ausreichend, da es dann Fälle geben kann, in denen bis zu drei Monate vergehen, bevor ein Klärungsverfahren in Gang gesetzt wird..."
Ebenso
BAG vom 18.11.2021 - 2 AZR 138/21,
Rn. 24
[24] „Um eine Sicherung des Arbeitsverhältnisses durch eine verstärkte Gesundheitsprävention zu erreichen, mit der weiteren Arbeitsunfähigkeitszeiten nach Möglichkeit vorgebeugt werden kann, ist es geboten, dass der Arbeitgeber
unverzüglich tätig wird, sobald diese Schwelle überschritten ist (ebenso Greiner in Neumann/ Pahlen/ Greiner/ Winkler/ Jabben SGB IX 14. Aufl. § 167 Rn. 15; Wullenkord Arbeitsrechtliche Kernfragen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in der betrieblichen Praxis S. 42; Hinze Das betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX (BEM) S. 120 f.).“
Zu eng daher die Mutmaßung von Dr.
Baßlsperger von 2012: „Es ist in der Regel völlig ausreichend, wenn der Arbeitgeber / Dienstherr eine Kontaktaufnahme nach Rückkehr des Beschäftigten vornimmt.“ Dafür geben die Gesetzesmaterialien nichts her. Die Dienststelle hat hier vielmehr unaufgefordert ein zeitnahes BEM anzubieten und gleichzeitig den BR/PR, bei sbM auch SBV, zu
unterrichten von den BEM-Voraussetzungen sowie dem BEM-Angebot. Vergleiche dazu auch die
Diskussion von Ulrich Römer mit der Frage: „Ob er es dann noch braucht / will?“
BEM als gesetzliches Frühwarnsystem
Ausführliche Diskussion dazu mit weiteren zahlreichen Nachweisen und Quellen mit Gesetzesmaterialien auch
Diskussion 2014/2016. Kennt evtl. jemand gegenteilige Literatur hier im Forum? Welche weiteren Auffassungen gibt's dazu im Forum? Wie wurde denn der Punkt ggf. in anderen Bundesländern geregelt für PR/SBV bzgl. Namenslisten von BEM-Berechtigen?
Viele Grüße
Albin Göbel
...................
*) So auch
BIH (ZB-Ratgeber S. 49), die
jedenfalls bei "etablierten Verfahren" von
einer zeitnahen Monatsfrist ausgeht statt
bis zu ½ Jahr, weil dies den Zielen eines
BEM nicht mal annähernd gerecht würde!