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Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Mittwoch 1. Februar 2012, 16:54
von elly.lämmlen
Laut einer (nicht repräsentativen) Umfrage auf der Internetseite der BIH sind strukturelle Barrieren - etwa bürokratische Hürden oder Vorurteile - ein Grund dafür, dass schwerbehinderte Menschen nur schwer einen Job finden.

Um welche Probleme geht es da genau?

Wie sind Ihre Erfahrungen im Alltag?

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Freitag 3. Februar 2012, 18:10
von frank.kalkowski
Die Bundesfinanzverwaltung hat sich eine Rahmenintegrationsvereinbarung gegeben, in der es heißt, dass der öffentlichen Arbeitgeber in der Förderung arbeitsloser schwerbehinderter Menschen eine besondere Vorbildfunktion zu kommt. Soweit so gut.
Das Problem ist aber, dass wir bereits eine Beschäftigungsquote von über 9% haben. Somit ist die Beschäftigungsquote bereits erfüllt.
Diese 9% kommen aber nur zustande, weil die Kolleginnen und Kollegen mit zunehmendem Alter verstärkt von Schwerbehinderung betroffen sind.
Ferner müssen wir auch verstärkt sogenanntes Überhangpersonal aus anderen Verwaltungen übernehmen, so dass es für externe Bewerber so gut wie keine Chance auf eine Anstellung gibt.
Anders sieht es bei der Gewinnung von Nachwuchskräften aus. Wenn die Verwaltung eine gewisse Anzahl von Anwärterstellen (Beamtennachwuchs)genehmigt, dann ist ein gewisser Prozentsatz für schwerbehinderte Bewerber reserviert.

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Montag 6. Februar 2012, 10:54
von Ulrich.Römer
Hallo Herr Kalkowski,

das ist doch schonmal ein sehr guter Ansatz, wenn diese Quotenregelung zum gewünschten Ziel führt. Bleibt nun noch zu hoffen, dass es auch genügend schwerbehinderte Jugendliche gibt, die sich auf diese Anwärterstellen bewerben.

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Mittwoch 8. Februar 2012, 12:36
von jürgen.bauch
Ich glaube, dass die Vorurteile den grössten Posten in dem Paket ausmachen. Wenn diese ausgeräumt werden und der Wille vorhanden ist, schwerbehinderten Menschen jede Arbeit zuzutrauen und zu überlassen, dürften auch Bürokratie und strukturelle Barrieren keine große Rolle mehr spielen. Sprichwörter spiegeln manchmal die Lebenswirklichkeit wider: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Mittwoch 8. Februar 2012, 13:51
von frank.kalkowski
Hallo Herr Kalkowski,

das ist doch schonmal ein sehr guter Ansatz, wenn diese Quotenregelung zum gewünschten Ziel führt. Bleibt nun noch zu hoffen, dass es auch genügend schwerbehinderte Jugendliche gibt, die sich auf diese Anwärterstellen bewerben.
Hallo Herr Römer,

es bewerben sich sehr viele schwerbehinderte Jugendliche. Das Problem ist nur, dass es noch mehr sein könnten. Es gibt noch zu viele schwerbehinderte Jugendliche, die sich auf Grund ihrer negativen Erfahrungen bei Auswahlverfahren in der freien Wirtschaft, nicht trauen ihre Schwerbehinderteneigenschaft zu nennen.

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Donnerstag 9. Februar 2012, 06:24
von Anonymous
Hallo in die Runde,
ich bin selbst schwerbehindert und habe in den letzten Monaten folgende Erfahrungen machen müssen:

1. Ich spüre nichts von einem Fachkräftemangel. Ich habe einen Hochschulabschluss mit Prädikatsexamen im Bereich der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Bewerbe ich mich auf freie Stellen in der freien Wirtschaft, bei den ich das Anforderungsprofil erfülle, so bekomme ich immer die Mitteilung, dass meine Bewerbung eingegangen ist. Dann kommt nichts mehr. Ich werde nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Mein Verdacht: viele Arbeitgeber wollen keine Schwerbehinderten einstellen, auch wenn sie in den Medien etwas anderes behaupten. In meinem Freundeskreis kenne ich viele schwerbehinderte Akademiker, die ähnliche Erfahrungen machten.

2. In politischen Diskussionen wird nur der Aspekt genannt, wie bringe ich schwerbehinderte Menschen wieder in Arbeit. Jedoch wird kaum darauf eingegangen, was die schwerbehinderten Menschen brauchen, um am Arbeitsplatz konkurrenzfähig zu sein. Ich weiss aus meiner Beratungsarbeit, dass einige schwerbehinderte Menschen große Probleme haben, Hilfen finanziert zu bekommen, um am Arbeitsplatz auch optimal "funktionieren" zu können. Hilfen wie Gebärdensprachdolmetscher oder "Telefonieren für Gehörlose" werden verweigert. Seit drei Jahren gebe ich Seminare für hörbehinderte/ gehörlose Arbeitnehmer und Selbständige mit dem Ziel, sie trotz der Hörbehinderung im Arbeitsleben konkurrenzfähig zu machen. In diesen Seminaren lernen sie, wie sie im Arbeitsleben "richtig" verhalten müssen und welche personellen und technischen Hilfen sie nutzen können, um behinderungsbedingte Barrieren am Arbeitsplatz abzubauen. Solche Seminare werden von vielen Integrationsämtern nicht mehr finanziert. Es wird in der Öffentlichkeit einfach verschwiegen, dass viele Integrationsämter sparen müssen - zu Lasten der schwerbehinderten Arbeitnehmer und Selbständige. Etliche Arbeitgeber sind trotz ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht bereit, die Kosten für diese Hilfen zu finanzieren. So wird aus dem schwerbehinderten Menschen schnell ein Mensch, der im Unternehmen anderen zur Last fällt. Warum soll vor diesem Hintergrund die Arbeitgeber schwerbehinderte Menschen einstellen?

Viele Grüße
Thomas Worseck

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Donnerstag 9. Februar 2012, 06:58
von hans.hübner
Seit dem 1.7.2010 ist lt. europäischer Richtlinie ein neuer Ausweis für die Nutzung von Parkplätzen durch behinderte Menschen eingeführt worden. Damit ist die bisherige Regelung auf kommunaler Ebene nicht mehr möglich. Jetzt ist die Benutzung dieser Parkplätze nur möglich, wenn eine Behinderung mit dem MZ "aG" vorliegt. Die bisherige Regelung in ST, die die Benutzung dieser Parkplätze gestattete, wenn zum Ein- und Aussteigen das vollständige Öffnen der Türen des Kfz erforderlich war, ist ersatzlos entfallen. Das Versorgungsamt unseres Landes ist in keiner Weise bereit, sich an einer Diskussion zu beteiligen und verweist auf die bestehende Rechtslage.
Frage:
Gibt es in anderen Bundesländern angepasste Regelungen?

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Donnerstag 9. Februar 2012, 15:11
von CVedder
Hallo Herr Worseck,
wenn Sie nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden, könnte sich auch ein Blick in das AGG lohnen und die §§ 7 und 15 bemühen. Auch heute noch werden mitunter Fehler in der Bewerberfiltrierung gemacht. Aber abgesehen davon, dass Schadensersatzklagen wenig erfreulich sind und nicht wirklich eine tragfähige Antwort auf Ihre Erfahrungen geben können, ist es schon absolut entäuschend wie viele Unternehmen immer noch entscheiden. Da gebe ich Ihnen also Recht.

Zur Frage der Finanzierung ist Ihnen sicherlich bekannt, dass die Ausgleichsabgabe relativ beschränkt ist. In 2010 lag das Aufkommen bei 466,5 Millionen Euro für ganz Deutschland und damit knapp 52 Millionen unter den Jahren 2008 und 2009. Da bleibt es nicht aus, dass gespart oder anders ausgedrückt, ganz bewusst die Mittel eingesetzt werden. Ein Gedanke könnte insofern auch der ergänzende Einsatz von Steuergeldern sein.

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Donnerstag 9. Februar 2012, 18:23
von thomas.worseck1

Zur Frage der Finanzierung ist Ihnen sicherlich bekannt, dass die Ausgleichsabgabe relativ beschränkt ist. In 2010 lag das Aufkommen bei 466,5 Millionen Euro für ganz Deutschland und damit knapp 52 Millionen unter den Jahren 2008 und 2009. Da bleibt es nicht aus, dass gespart oder anders ausgedrückt, ganz bewusst die Mittel eingesetzt werden. Ein Gedanke könnte insofern auch der ergänzende Einsatz von Steuergeldern sein.
Hallo Herr Vedder,
im letzten Jahr habe ich an zwei Veranstaltungen gegenüber den zuständigen Vertretern vom Bundesarbeitsministerium darauf hingewiesen, dass die Mittel der Integrationsämtern rückläufig sind. Die Vertreter des Bundesarbeitsministeriums widersprachen vehement meine Darstellung und behaupteten stattdessen, die Integrationsämter hätten mehr zur Verfügung als in den Vorjahren. Auch lese ich in den Antworten der Landesregierungen auf die Anfragen aus den Landesparlamenten, dass die Mittel der Integrationsämter auskömmlich wären. Solange im politischen Raum dieses Problem nicht erkannt wird, laufen Forderungen der Behindertenverbände auch nach ergänzenden Einsatz von Steuergeldern in die Leere. Es wäre wünschenswert, wenn die Integrationsämter sich öffentlich zu dieser Problematik äußern würden. Bisher lese ich in dieser Hinsicht nur gegenteilige, d.h. positive Äußerungen von den Integrationsämtern. Täuscht dieser Eindruck?

Bürokratie, Vorurteile und andere strukturelle Barrieren

Verfasst: Donnerstag 9. Februar 2012, 20:33
von daniel.rickers
Hallo,

die Problematik der Mindestbeschäftigung hat Herr Kalkowski bereits in seinem Beitrag vom 03.02.2012 bereits angesprochen. Die Mindestbeschäftigung wird in vielen Fällen ?künstlich? erreicht, weil Beschäftigte überlastet sind und dadurch psychisch oder körperlich erkranken. Schon daraus ergibt sich eine Behinderung im Sinne des SGB IX. So sollten Arbeitgeber oder Dienstherren die Quote aber nicht erreichen und dann noch beschönigen, auf der Seite der Guten zu stehen. So wird die Einstellung behinderter Nachwuchskräfte durch Arbeitgeber und Dienstherren blockiert. Um die Chance für bereits Beschäftigte und Nachwuchskräfte zu verbessern, muss eine bessere oder verbesserte Aufteilung in den Beschäftigtengruppen erfolgen.

Am 09.02. ging Herr Worseck auf das Thema Hilfsmittel ein. Meine eigene Erfahrung hat gezeigt, dass ich als Arbeitnehmer vom Arbeitgeber keine wirkliche Unterstützung bekam. Über die örtliche Schwerbehindertenvertretung bekam ich Kontakt zum Integrationsfachdienst (IFD). Zusammen mit dem IFD und der Schwerbehindertenvertretung konnte ich die Anträge an die DRV stellen. Der Bescheid beinhaltete, dass der Arbeitgeber die Hilfsmittel beschafft. Der Arbeitgeber ließ die 6-Monats-Frist fast verstreichen. Der ganze Aufwand blieb bei mir und dem IFD. Integration durch den Arbeitgeber ist das nicht. Arbeitgeber dürfen sich nicht auf die Erfüllung einer Quote ?ausruhen?.

Gruß

Daniel Rickers