murebeil hat geschrieben:Unser Bürgermeister ist schwerbehindert. Sehe ich richtig, dass er wählen darf, aber nicht wählbar ist?
Hallo murebeil, eine ebenso spannende wie umstrittene Rechtsfrage der erste Teil Ihrer Frage nach dem aktiven Wahlrecht. Die Literatur ist uneinheitlich. Diesen Ersten (hauptamtlichen?) und von den Bürgern gewählten Bürgermeister wird man hier offenbar als den Dienststellenleiter einer Gemeinde oder einer Stadt anzusehen haben in
Niedersachsen.
• Bürgermeister ≠ nachgeordnetes Personal
Dieser „Gewählte“ hat keine
Vorgesetzten ( anders als Beschäftigte i.S. des § 177 Abs. 1 und Abs.
2 sowie Abs. 3 SGB IX), die ihm Weisungen nach § 106 GewO erteilen könnten. Auch niemand, der ihn dienstlich beurteilt, außer die Wähler bei der nächsten Wahl, also
keine abhängige Beschäftigung. Sie sind keine Zeitbeamte i.S. des §
35 BeamtStG: Dilemma hier ist, dass die SGB IX-Literatur verbreitet pauschaliert statt differenziert, so dass das vereinzelt zu "grotesken" bzw. geradezu widersinnigen Resultaten führt:
BIH hat geschrieben:Behördenleiter... (im Sinne des § 7 BPersVG) sind wahlberechtigt.101)
Dazu vertritt die BIH-Wahlbroschüre in Abschnitt 3.1,
Aktives Wahlrecht, Seite 38, unter Verweis auf
Pahlen, NPM-SGB IX, § 94 Rn. 23, pauschal sowie uneingeschränkt die apodiktische Ansicht:
"Behördenleiter und ihre Stellvertreter (im Sinne des § 7 BPersVG) sind wahlberechtigt." Ebenso Entscheidungstabellen, S. 22/44. Da schießen beide über das Ziel hinaus. Zu weitgehend auch der reine Wortlaut der wahlordnungsrechtlichen Definition in § 1 Abs. 2
Satz 1 SchwbVWO, da über die gesetzliche Grundnorm des § 177
Abs. 2 SGB IX (“
beschäftigten schwerbehinderten Menschen“) hinausgehend. Nach dieser Definition, in der nichts von Beschäftigung steht, dürften auch sb Minister wählen, was ich für abwegig halte. So auch
StMI vom 11.02.2014 auf Seite 13 (unten) für PR-Wahlen in Baden-Württemberg, wonach zum Beispiel „Minister“ sowie „Politische Staatssekretäre“ nicht zum Kreis der Beschäftigten gehören. Nach obiger kühner These wäre Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble (Rollstuhl) im BMF oder
Andrea Nahles (GdB 50) im BMAS aber wahlberechtigt gewesen ???
Sehe diese etwas weitgehende Einschätzung skeptisch zumindest für Erste Bürgermeister (aber zum Beispiel auch etwa für Landräte sowie für Dienststellenleitungen von Staatskanzleien sowie Landes/Bundesministerien u.s.w.). Vergleiche zu ➔Ausnahmen Kattenbeck/Bugiel/ Wipijewski, BayPVG, 12. Aufl,
Erläuterung zu Art. 4 BayPVG, wonach zu den Beschäftigten zwar grundsätzlich auch die Dienststellenleiter gehören – nicht jedoch
"z.B. gesetzliche Vertreter von Körperschaften" wie folgt: „Zu den Beschäftigten gehört grundsätzlich auch der Dienststellenleiter
(Ausnahmen z.B. Kabinettsmitglieder, gesetzliche Vertreter von Körperschaften), allerdings sind ihm bestimmte Rechte (z. B. passives Wahlrecht) entzogen.“ Die Gemeinde ist eine Gebietskörperschaft. Wie wird das in anderen Gemeinden sowie Bundesländern gesehen bzw. praktiziert? Und wie bewertet Ihr
Integrationsamt in Niedersachsen denn diese spannende Rechtsfrage?
Kennt jemand aktuelle Beispielsfälle?
Die BIH vertritt ferner im Abschnitt 1.2.3 zum
Beschäftigungsverhältnis, Seite 18, unter Verweis auf
Düwell, LPK-SGB IX, § 94 Rn. 16, folgende generelle Ansicht:
"Dienststellenleiter und ihre Vertreter im öffentlichen Dienst sind Beschäftigte und zählen bei der Bestimmung der Mindestzahl mit.59)" Diese pauschale Ansicht kann ich dem in der Endnote 59) zitierten LPK-SGB IX, § 94 Rn 16, nicht entnehmen. Ferner ablehnend, aber zu weitgehend, auch Esser/Isenhardt, jurisPK-SGB IX, § 177 Rn. 12, und Ernst/Adlhoch/Seel, SGB IX, Rn. 31 zu § 94 SGB IX a.F., welche den Dienststellenleitungen wohl generell ein Wahlrecht absprechen.
murebeil hat geschrieben:Unser Bürgermeister ist schwerbehindert. Sehe ich das richtig, dass er nicht wählbar ist?
Korrekt, nicht wählbar als Dienststellenleiter. So zu Recht auch BIH-Wahlbroschüre, S. 42/44, da von Wählbarkeit zum Personalrat als Dienststellenleiter ausgeschlossen laut § 12 Abs. 2 S. 1 Nr.
1 NPersVG.
Aber zudem schon deshalb nicht wählbar, da m.E. nicht Beschäftigter iSd § 177 Abs. 3 Satz
1 SGB IX, da er weder persönlich abhängige noch fremdbestimmte Dienste zu erbringen hat als Grundvoraussetzung für diesen eigenständigen und ggü. den unterschiedlichen 17 Personalvertretungsgesetzen teilweise
zwangsläufig abweichenden Beschäftigtenbegriff wie folgt:
Dr. Sachadae hat geschrieben:Im Sinne des § 94 SGB IX beschäftigt ist, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags, auf Grund eines freiwillig eingegangenen Sonderstatusverhältnisses oder auf Grund eines diesen beiden Formen gleichgestellten Rechtsverhältnisses verpflichtet ist, persönlich abhängige, fremdbestimmte Dienste zu erbringen. ( Dissertation 2013, 171) rehadat-forschung.de
Sein Dienst ist nicht fremdbestimmt, weil es eben keinen „Bestimmer“ über ihm gibt wie sonst grds. bei (allen) Beschäftigten, welche -
weisungsgebundene - Dienste erbringen laut Direktionsrecht ihres Arbeitgebers (vergl. dazu
§ 35 BeamtStG bzw. §
106 i.V.m. § 6 Abs. 2 GewO). Und dieser
einheitliche Beschäftigtenbegriff aller SBV-Wahlen in
§ 177 Abs. 1 bis 3 SGB IX hängt nicht etwa vom jeweiligen LPVG ab, wie von Prof.
Düwell im DVfR-Fachforum nachgewiesen, weil insoweit in § 177 gerade nicht darauf verwiesen wird. Dem steht auch nicht entgegen, dass
_es eine staatliche Rechts- und Fachaufsicht gibt (im
_eigenen bzw. im übertragenen Wirkungskreis).
Viele Grüße
Albin Göbel