holger.reiter hat geschrieben: ... darf der Arbeitgeber nach einem Schwerbehindertenausweis fragen?
Hallo Herr Reiter,
die tätigkeitsneutrale
Frage nach einem Schwerbehindertenausweis bzw. nach einem GdB-Feststellungsbescheid im Einstellungsverfahren ist grundsätzlich verboten, da regelmäßig diskriminierend. Wird diese Frage dennoch gestellt, muss sie m.E. nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden ("Recht zur Lüge"). Dies gilt nicht nur für Personalfragebögen sowie für Einstellungsformulare aller Art, sondern ebenso für Vorstellungsgespräche nach einhelliger Meinung in der neueren Fachliteratur bzw. nach ständiger arbeits- und verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung der letzten sechs Jahre zur Offenbarung einer Schwerbehinderung:
• ArbG Herne,
Urteil vom 31.03.2006, 1 Ca 2452/05, Rn. 102;
• LAG Hamm,
Urteil vom 19.10.2006, 15 Sa 740/06, Rn. 54/55;
• ArbG Berlin,
Urteil vom 07.10.2008, 8 Ca 12611/08, Rn. 53;
• ArbG Ulm,
Urteil vom 17.12.2009, 5 Ca 316/09, Rn. 35/36;
• LAG Stuttgart,
Urteil vom 06.09.2010, 4 Sa 18/10, Rn. 35;
• VG Ansbach,
Urteil vom 14.12.2010, AN 8 P 10.01772, Rn. 15.
• ArbG Stuttgart,
Urteil vom 16.03.2011, 30 Ca 1772/10, Leitsatz 2
Diese Urteile stellen eine längst fällige Abkehr von der früheren Rechtsprechung des BAG zum (damals noch bejahten) Fragerecht des Arbeitgebers nach einer Schwerbehinderung bei Einstellungen aus der Zeit vor Einführung des § 81 Abs. 2 SGB IX dar. Diese BAG-Rechtsprechung, die schon damals heftiger Kritik im Fachschrifttum ausgesetzt war, war spätestens angesichts der neuen Gesetzeslage im SGB IX und aufgrund der - nunmehr auch im AGG umgesetzten - EU-Richtlinie 2000/78 EG vom 27.11.2000 nicht mehr haltbar (Dr. Oliver Tolmein in jurisPR-ArbR 18/2007 Anm. 4). Die EU-Kommission hatte 2007 ein
Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wegen unkorrekter Umsetzung des EU-Antidiskriminierungsrechts in Deutschland.
Zweiter Senat 1995
Die früheren Urteile des BAG aus den 90-er Jahren betrafen nicht das aktuelle Antidiskriminierungsrecht wegen einer Schwerbehinderung gemäß § 81 Absatz 2 Satz 1 SGB IX und nicht das Antidiskriminierungsrecht nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), sondern bezogen sich allesamt auf das am 30.06.2001 ausgelaufene alte
Schwerbehindertengesetz (SchwbG), das vor der Einführung des SGB IX 2001 galt, demnach klar obsolet wegen Rechtsänderung (
BAG, 05.10.1995, 2 AZR 923/94, dazu
Pressemitteilung).
Zweiter Senat 2011
Das Bundesarbeitsgericht hat über die Rechtsfrage, ob wegen des gesetzlichen Benachteiligungsverbots nach § 81 Abs. 2 SGB IX die tätigkeitsneutrale Frage nach einer Schwerbehinderung bei Einstellungen
"generell unzulässig" ist, bisher noch nicht geurteilt bzw. diese Frage bewusst offengelassen, da es darauf nicht angekommen sei (BAG, 07.07.2011, 2 AZR 396/10,
Rn. 17 mit umfangreichen Nachweisen gegen ein generelles Fragerecht).
Achter Senat 2011
Davon ist BAG, 13.10.2011, 8 AZR 608/10,
Rn. 43 m.w.N. abgerückt, wonach gerade die Nachfrage nach einer tätigkeitsneutralen Schwerbehinderung ein Indz für unmittelbare oder mittelbare Verfahrensdiskriminierung (Benachteiligung) sein könne u.a. mit Verweis auf AGG-Rechtsänderung 2006 Dem ist klar zuzustimmen.
Viele Grüße
Albin Göbel