BEM nicht den Einschränkungen angemessen?

Antworten
Karl503
Beiträge: 1
Registriert: Samstag 13. April 2024, 21:00

BEM nicht den Einschränkungen angemessen?

Beitrag von Karl503 »

Guten Tag,

ich bin seit 5 Jahren krank und habe den üblichen Weg hinter mir: Krankengeld, Reha vor 3 Jahren, ALG1 nach Nahtlosigkeitsregelung, Stellen eines Rentenantrags, der abgewiesen wurde, Widerspruch und Klage ebenfalls erfolglos. Das diesbezügliche letzte Gutachten stellte folgende Einschränkungen fest: kein Zeitdruck, kein ständiger Publikumsverkehr, keine Arbeiten mit erhöhter Anforderung an das Konzentrationsvermögen. Eine erneute Reha wollte die Rentenversicherung ebenfalls nicht genehmigen.

Ich habe somit weder über die Krankenkasse einen Anspruch auf Wiedereinliederung nach Hamburger Modell noch über den Rententräger, da dafür ja im Vorfeld eine Reha notwendig wäre.

Also hatte ich recherchiert, welche Möglichkeiten es noch gäbe und hatte im Internet von anderen gelesen, dass sie mit ihrem Arbeitgeber eine Art Wiedereinstieg mit Verrechnung von Überstunden und Abbau von Urlaubstagen vereinbart hatten. Das erschien mir eine halbwegs gute Alternative und bin damit an meinen Arbeitgeber herangetreten. Ich habe ebenso einen GdB von 40 und der Gleichstellungsantrag läuft noch.

Zuerst hatte ich das Betriebliche Eingliederungsmanagement kontaktiert und bei diesem Gespräch war auf meinen Wunsch der SBV anwesend. Ich habe in diesem Erstgespräch meine o.g. Einschränkungen kommuniziert und nach der Möglichkeit gefragt, langsam über mehrere Monate wiedereinzusteigen, um zu erproben, mit welcher Belastung ich zurechtkomme und dabei wöchentlich einen oder zwei Urlaubstage abzubauen, um eine längere Erholungspause zu gewährleisten.

Das dies erst mit der Personalstelle geklärt werden musste, wurde auch erst einmal nur dies im BEM-Protokoll festgehalten. Ich ging davon aus, dass nachdem diese Rahmenbedingungen geklärt seien, es sicher noch zweites BEM-Gespräch geben würde, in dem dann auch die Inhalte (also konkrete Maßnahmen wie Arbeitsumfang, Arbeitsaufgaben mit Rücksicht auf die Einschränkungen) fixiert werden würden.

Die Klärung mit der Personalstelle war erfolgreich, es erfolgt zunächst für einige Wochen eine zeitlich befristete Reduzierung der Arbeitszeit und das Einflechten von wöchentlichen Urlaubstagen ist ebenfalls möglich. Das hat mich erst einmal sehr gefreut, dass dies grundsätzlich möglich ist.

Nun gab es jedoch 3 Aspekte, bei denen ich leise Zweifel habe, ob das BEM systematisch und strukturiert genug für meine Bedürfnisse ist:

1. Mein Vorgesetzter (mit dem ich ebenfalls Kontakt aufgenommen hatte und der sehr nett war) hatte angedeutet, dass er die Hoffnung hat, dass ich vielleicht im Sommer schon wieder voll arbeiten könnte. Die Hoffnung kann ich natürlich verstehen, sehe dies allerdings ehrlich gesagt aktuell jedoch nicht - ich weiß aktuell noch nicht einmal, wie ich mit Halbtagsarbeit zurechtkommen würde. Durch das Aussprechen dieser Hoffnung fühle ich mich nun unter Druck gesetzt, zu einem gewissen Zeitpunkt wieder voll funktionieren zu müssen.

2. Als ich nach einem zweiten BEM-Gespräch fragte und ob ich noch einen Stufenplan vorlegen sollte, wurde mir mitgeteilt, dass das nicht notwendig sei, weil mein Wiedereinstieg nicht über die Krankenkasse laufen würde, sondern das in meinem Fall vertraglich über die reduzierten Stunden geregelt sei. Das Argument kann ich zwar verstehen (und bin natürlich froh, dass es überhaupt diesen Weg des Wiedereinstiegs gibt), aber somit ist derzeit lediglich die Arbeitszeit festgehalten, nicht jedoch der Arbeitsumfang oder die Aufgaben an sich. Dabei dachte ich, dass auch dies zum BEM gehört...

Unglücklicherweise beinhaltet meine Stelle jedoch genau die Einschränkungen: viel Termin- und Zeitdruck, relativ viel Publikumsverkehr. Ich hätte deshalb gern noch schriftlich in einem BEM-Protokoll vereinbart gehabt, dass solche Tätigkeiten erst einmal ausgeschlossen oder stark reduziert werden, um mich nicht sofort wieder zu überlasten. Der BEM-Beauftragte meinte zwar, wenn ich feststelle, dass ich bestimmte Dinge nicht oder noch nicht könne, könnte ich mich natürlich nochmals für ein Gespräch melden - aber ich sei doch so qualifiziert und immer so gut in meinem Job gewesen, nach ein paar Tagen hätte ich mich sicher wieder problemlos in meinem Aufgabenbereich eingefunden usw.

Auch hier wurde also wieder unterschwellig eine Erwartung an mich herangetragen, der ich mich im Moment noch nicht gewachsen fühle. Dabei hatte ich wie gesagt meine Einschränkungen im Erstgespräch thematisiert, deshalb bin ich etwas ratlos, warum dies nun mehr oder weniger weggewischt wurde.

3. Mit der Personalstelle wurde wie gesagt eine zunächst auf einige Wochen befristete, reduzierte Arbeitszeit vereinbart. Auch hier wurde angesprochen, dass danach dann langfristige Regelungen getroffen werden sollen. Ich müsste mich also in einigen Wochen auf einen festen Stundenumfang festlegen, hätte aber lieber die Möglichkeit einer über einige Monate flexiblen Steigerung, je nach Gesundheitszustand - und erst dann einen längerfristigen festen täglichen Stundenumfang festgelegt, wenn ich abschätzen kann, wo meine Belastungsgrenze liegt.

Bitte meinen Thread nicht falsch verstehen: ich möchte nicht endlos "fordern" und vielleicht ist die Lage bei mir ja auch deshalb anders, weil mein Wiedereinstieg nicht über die Krankenkasse läuft (und ich auch noch keine Gleichstellung habe?).

Da ich andererseits jedoch überall gelesen hatte, dass ein BEM bzw. ein Wiedereinstieg auch bis zu 6 Monate (oder sogar noch länger?) gehen kann und dass im BEM durchaus Maßnahmen zu Arbeitsorganisation und Arbeitsumfang festgelegt werden können, bin ich mir nun unsicher, ob die derzeitige Art und Weise letzten Endes etwas zu schnell für meinen Gesundheitszustand wäre und ich deshalb nochmals um Anpassung bitten könnte. Meine Vorstellung war idealerweise ein langsamer Wiedereinstieg über mehrere Monate, aber ich habe das Gefühl, jeder der Beteiligten hat den Eindruck, dass es nun schnell bergauf geht und ich demnächst wieder vollumfänglich einsatzfähig bin und dies auch erwartet.

Meine Frage wäre, was ich nun tun könnte und an wen ich mich wenden könnte. Da ich nicht verschiedene Stellen gleichzeitig "nerven" möchte, würde mich eure Einschätzung freuen, an wen ich mich realistischerweise zuerst wenden könnte, um einen etwas entschleunigteren und detaillierten Plan festzulegen:
- nochmals den SBV ansprechen?
- oder doch nochmals um ein BEM-Gespräch bitten?
- oder den Betriebsarzt kontaktieren?
- oder erst einmal 2 Wochen abwarten, wie der Einstieg verläuft und dann nochmals mit irgendwem (wem?) das Gespräch suchen?

Vielen Dank.
Michael Karpf
Beiträge: 77
Registriert: Dienstag 1. November 2016, 18:50

Re: BEM nicht den Einschränkungen angemessen?

Beitrag von Michael Karpf »

Karl503 hat geschrieben: Samstag 13. April 2024, 22:28 Ich habe somit weder über die Krankenkasse einen Anspruch auf Wiedereinliederung nach Hamburger Modell noch über den Rententräger, da dafür ja im Vorfeld eine Reha notwendig wäre.
Hallo Karl,

es stimmt nicht, dass die Stufenweise Wiedereingliederung (StW) nach dem sogenannten Hamburger Modell rechtlich generell ausgeschlossen ist nach § 44 SGB IX ohne eine Reha im Vorfeld, auch wenn das durch die Krankenkasse, Arbeitsagentur oder eine andere Stelle so transportiert wurde. Diese frühere Auffassung ist längst überholt durch ständige Rechtsprechung, also Schnee von gestern. Auch beim Bezug von ALG I oder ALG II (nun Bürgergeld) ist eine gestufte Wiedereingliederung nicht von vornherein ausgeschlossen bei bestehendem Arbeitsverhältnis und nicht an eine Gleichstellung geknüpft. Voraussetzung ist allerdings, dass der Arzt oder die Ärztin eine Prognose abgibt im Stufenplan, bis wann wieder die volle Belastbarkeit zu erwarten ist bei Vollzeit- oder ggfls. bei Teilzeitbeschäftigung, im Falle einer Gleichstellung jeweils unter Berücksichtigung von § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX (ArbG Aachen, Eilbeschluss vom 12.03.2024 – 2 Ga 6/24 – zur ärztlichen Prognose im Stufenplan)

Dazu gibt es auch Ausführungen im DVfR-Glossar zur StW unter „Ergänzung“ (ganz am Ende). Siehe hierzu z.B. auch LSG M-V, Urteil von 28. Mai 2020, Az.: L 6 KR 100/15, und die erhellende Diskussion 2023 zur Rolle der Jobcenter bei StW und Aussteuerung aus Krankengeld und aus ALG.

Karl503 hat geschrieben: Samstag 13. April 2024, 22:28 2. Als ich nach einem zweiten BEM-Gespräch fragte und ob ich noch einen Stufenplan vorlegen sollte, wurde mir mitgeteilt, dass das nicht notwendig sei, weil mein Wiedereinstieg nicht über die Krankenkasse laufen würde, sondern das in meinem Fall vertraglich über die reduzierten Stunden geregelt sei.
Da sind wirre Aussagen gemacht worden. Eine professionelle Beratung durch das Bürgertelefon des BMAS wäre zu empfehlen, z.B. im Themenbereich „Informationen für Menschen mit Behinderungen“, Tel: 030 221 911 006.

Viel Erfolg und beste Grüße
Dr. Michael Karpf
annette.rosenberg
Beiträge: 97
Registriert: Montag 6. Februar 2012, 14:36

Stufenweise Wiedereingliederung bei einer „Aussteuerung“ aus Krankengeld und ALG

Beitrag von annette.rosenberg »

Michael Karpf hat geschrieben: Sonntag 14. April 2024, 12:22 es stimmt nicht, dass die StW nach dem sogenannten Hamburger Modell rechtlich generell ausgeschlossen ist nach § 44 SGB IX ohne eine Reha im Vorfeld
Absolut korrekt die Klarstellung von Dr. Karpf, wonach StW keine Reha »im Vorfeld« voraussetzt. Auch ist dafür weder eine Behinderung noch eine Gleichstellung erforderlich laut ständiger Rspr. und tausendfacher Verwaltungspraxis z.B. der Krankenkassen seit Jahrzehnten. Das sollte eigentlich auch die SBV wissen. Da gibts wohl noch viel Halbwissen:
In § 44 SGB IX oder in § 74 SGB V oder sonst steht nichts dergleichen von solchen m.E. „unsinnigen“ ver­meint­li­chen Voraus­setzungen!

Wie schon von Dr. Karpf erwähnt könnte eine Gleichstellung hier äußerst hilfreich sein wegen § 164 Abs. 4 und 5 SGB IX. Bei entsprechender Begründung sollte einer Gleichstellung m.E. nichts entgegenstehen jedenfalls bei einer Mindest­stun­den­zahl von ≥ 18 Wochenstunden laut § 156 Abs. 3 SGB IX.

Karl503 hat geschrieben: Samstag 13. April 2024, 22:28 Ich habe in diesem Erstgespräch meine o.g. Einschränkungen kommuniziert und nach der Möglichkeit gefragt, langsam über mehrere Monate wiedereinzusteigen, um zu erproben, mit welcher Belastung ich zurechtkomme und dabei wöchentlich einen oder zwei Urlaubstage, um eine längere Erholungspause zu gewährleisten.
Ist Urlaub während Wiedereingliederung zulässig?
Urlaub abzubauen während der StW geht urlaubsrechtlich gar nicht, weil ja noch arbeitsunfähig. Alternativ könnte der Arzt aber m.E. im Stufenplan z.B. konkret einen freien Tag pro Woche vorschlagen, soweit med. geboten.

Da arbeitsunfähig, erfolgt daher regelmäßig auch „keine elektronische Zeiterfassung“ während der StW laut verdi

Tipp Wenn Sie stufenweise Wiedereingliederung machen würden , könnten Sie Schritt für Schritt ausprobieren, was noch geht und was zuviel ist. Sprechen Sie also den Arzt darauf an, ob er das für eine gute Möglichkeit für Sie hält. Denn StW = bewährtes Instrument med. Reha.

Viel Erfolg!
Annette
jada.wasi
Beiträge: 391
Registriert: Freitag 30. März 2012, 16:30

Die Stufenweise Wiedereingliederung mit einzelnen freien Tagen pro Arbeitswoche?

Beitrag von jada.wasi »

Hallo zusammen,

das sagen die Experten der Bundesanstalt für Arbeits­medizin zur kreativen, flexiblen und maßgeschneiderten Ausgestaltung der StW als medizinisch-therapeutisches Instrument im Sinne der AU-Richtlinie:
BAuA hat geschrieben: Kreative und flexible Ausgestaltung:
„Eine übliche zeitliche Ausgestaltung der StW beinhaltet die schrittweise Steigerung der Arbeitsstunden an fünf Tagen pro Woche in einem Zeitraum von vier bis acht Wochen (zwei Stunden - vier Stunden - sechs Stunden).

Es kann aber auch sinnvoll sein, die StW tageweise zu gestalten und anfangs bspw. drei Tage pro Woche oder tageweise im Homeoffice zu arbeiten. Bei langen Arbeitswegen kann eine tageweise Ausgestaltung außerdem zu einem günstigeren Verhältnis von Fahrtzeit zur An­we­senheit führen. Auch die zyklische Steigerung von Arbeitsstunden und Arbeitstagen ist möglich.

So kann bspw. erst zwei, dann vier und dann sechs Stunden an drei Tagen pro Woche gearbeitet werden. Sobald die sechs Stunden erreicht sind und diese bewältigt werden können, werden anschließend die Tage von drei über vier auf fünf Tage aufgestockt.“
Erfolgversprechend ist demnach eine individuelle Ausge­staltung in einem ärztlich verordneten Stufenplan und mit kurzer ärztl. »Begründung« – wird auch so praktiziert von Reha­trägern. Gruß Jada Wasi
Antworten