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Anfechtung wegen falscher Wählerliste?

Verfasst: Montag 7. Mai 2018, 23:14
von Heidi Stuffer
LAG Nürnberg vom 31.05.2012 - 5 TaBV 36/11

Hallo zusammen,

in der Wahlbroschüre (Seite 93) steht, dass das Anfechtungsrecht wegen fehlerhafter Wählerliste verloren ginge, wenn zuvor kein fristgerechter Einspruch gegen die Wählerliste eingelegt wurde. Kann diese zweifelhafte Auslegung des LAG Nürnberg nicht zwischenzeitlich als überholt angesehen werden, siehe Leitsatz des BAG vom 02.08.2017 - 7 ABR 42/15? Danach ist ein Einspruch gegen die Richtigkeit der Wählerliste nicht Voraussetzung dafür, in einem späteren Anfechtungsverfahren die Aufnahme nicht Wahlberechtigter in die Wählerliste rügen zu können, so ausdrücklich BAG. Gilt das ebenso für SBV-Wahlen?
http://www.iww.de/quellenmaterial/id/199037

Beste Grüße
Heidi Stuffer

Re: Anfechtung wegen falscher Wählerliste?

Verfasst: Dienstag 8. Mai 2018, 17:23
von Michael Karpf
Systematisch betrachtet ist wohl in der Tat davon auszugehen, dass die Rechtsprechung des LAG Nürnberg mittlerweile überholt ist.

Um eine SBV-Wahl wegen fehlenden schwerbehinderten oder gleichgestellten behinderten Beschäftigten in der Liste der Wahlberechtigten anfechten zu können, muss im Vorfeld kein Einspruch gegen das unrichtige Wählerverzeichnis eingelegt worden sein.

Beste Grüße, Dr. Michael Karpf

Re: Anfechtung wegen falscher Wählerliste?

Verfasst: Dienstag 8. Mai 2018, 19:40
von jada.wasi
Hallo,
Das LAG Nürnberg vom 31.05.2012 - 5 TaBV 36/11 - auf welches sich die BIH-Wahlbroschüre bezieht, ist klar überholt, weil m.E. unvereinbar mit BAG in seinem Beschluss vom 0­2.08.2017 – 7 ABR 42/15 - sowie allen Vorinstanzen aus Ba-Wü aus dem Jahr 2015. Danach ist Einspruch nicht formelle Zulässigkeitsvoraussetzung für Anfechtung wegen fehlerhafter Wählerliste.

Gruß,
Jada Wasi

Anfechtung wegen falscher Wählerliste?

Verfasst: Mittwoch 9. Mai 2018, 19:00
von albin.göbel
Heidi Stuffer hat geschrieben:Kann diese zweifelhafte Auslegung des LAG Nürnberg als überholt an­ge­se­hen werden?
Ja, hinfällig und rechtswidrig:
Hallo zusammen, halte die gesamte Ar­gu­men­ta­t­ion des LAG Nürnberg für ziemlich schief und nicht ansatzweise für nach­voll­zieh­bar sowie für einen kompletten Irrweg, woge­gen jedoch keine Rechtsbeschwerde beim BAG eingelegt wurde, obgleich vom LAG zugelassen. Das LAG München 2014 und LAG Stuttgart 2015, LAG Hamm 2015, OVG Münster 2012, Rn 30/31, sind dem nicht unkritisch gefolgt in einem halben Dutzend Beschlüssen, da das LAG Nürnberg das An­fech­tungs­recht gesetzwidrig eingeschränkt hatte; sie ha­ben alle das genaue Gegenteil rechts­kräf­tig beschlossen.

Die ganze wahlordnungsrechtliche Ar­gu­men­tat­ion des LAG Nürnberg ist scharf da­ne­ben, weil die Wahlordnung über An­fech­tun­gen gar nichts regeln kann, weil in der Ver­ord­nungs­er­mäch­ti­gung ja nichts da­rü­ber steht (§ 183 SGB IX, zuvor § 100) und daher "gesetzeskonform" auszulegen ist: Die Wahlordnung als ­Rechts­­ver­ord­nung ist gegenüber dem Gesetz die klar ­schwä­­che­re Rechtsnorm (§ 177 Abs. 6 S. 2 SGB IX i.V.m. § 19 BetrVG sinngemäß*) und nicht umgekehrt. Da hat es sich das LAG ­Nürn­­berg zu leicht gemacht mit seinen "Un­ter­stel­lun­gen" bezüglich "missbräuchlichem" Verhalten bzw dem vorgeblichen "Zweck" der Wahlordnung. Darüber zu befinden ist dem Gesetzgeber vorbehalten.

Heidi Stuffer hat geschrieben:Gilt das ebenso für SBV-Wahlen?
:idea: Ja, gilt auch für SBV-Wahlen:
Diese Rechtsprechung ist auch sinngemäß übertragbar auf förmliche SBV-Wahlen wg. vergleichbarer Rechts- bzw In­ter­es­sen­la­ge lt. dem Fachschrifttum (ausführlich Knittel, SGB IX, § 94 Rn 104/104a mit zahlreichen Nachweisen; so auch ausdrücklich schon das LAG München, 28.05.2014, 8 TaBV 34/12, für SBV-Wahlen; a.A. die BIH, Wahlbroschüre, Seite 93) für Betriebe, Dienststellen, Gerichte, was jedoch strikt abzulehnen ist laut der ständigen höchstrichterlichen Rspr. - zuletzt BVerwG, 21.07.2009 – 1 WB 18.08, Rn. 30, sowie BAG, 02.08.2017 – 7 ABR 42/15, Rn. 20. Vgl. dazu auch Diskussion aus 2017 mit Rspr. BVerwG seit 1968.

:idea: Es kommt somit nicht darauf an – ob bzw. warum kein Einspruch innerhalb der wahl­ord­nungs­recht­li­chen Frist oder erst danach oder nur mündlich eingelegt wurde, da das im förmlichen Gesetz gerade nicht vor­ge­se­hen ist laut h.M. als Voraussetzung für Anfechtung wg. fehlerhafter Wählerliste (abweichend von der dem LAG Nürnberg folgenden BIH-Wahlbroschüre, Seite 93). Da­her können Anfechtungen wg. feh­ler­haf­ter Wählerliste nicht mehr rein formal ab­ge­wehrt werden mit dem bloßen Hinweis, es sei kein Einspruch eingelegt worden nach § 4 SchwbVWO: Wahlvorstände sind folg­lich gut beraten, die Wählerliste mit großer Sorgfalt zu erstellen, ggf. zu aktualisieren und auf dem Laufenden zu halten und zwar durchgängig bis zum Tag vor der Wahl.

:!: Die Wahlvorstände sollten sich nicht "blind" darauf verlassen, welche Daten sie vom Arbeitgeber erhalten, sondern viel­mehr dessen "Roh­ma­ter­i­al" zumindest ei­ner kritischen Plausibilitätsprüfung un­ter­zie­hen, etwa anhand der "Ent­schei­dungs­ta­bel­le" der Wahlbroschüre, Abschnitt 3.3.

Der Wahlvorstand könnte sich z.B. fragen: Wurden ruhende Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se gemeldet wie Elternzeit u.a? Wurden ge­ring­fü­g Beschäftigte gemeldet? Wurden Leiharbeitnehmer gemeldet - die an­ders als bei BR-Wahlen schon ab dem ersten Tag wahlberechtigt sind? Wurden et­wa­i­ge Probebeschäftigte gemeldet.

TIPPS Gezielt und ausdrücklich bei Ihrem Arbeitgeber nach solchen Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen fragen, die gerne mal ver­ges­sen bzw übersehen werden und an­sons­ten "durchrutschen" könnten, wie der Fall des LAG Nürnberg u.a. zeigen. Weitere Tipps zur gezielten Anfrage siehe hier.

Viele Grüße
Albin Göbel

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*) Ebenso Düwell, Handbuch zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung, 2. Auflage 2018, Abschnitt 10.3.2; Knittel, SGB IX, § 94 Rn. 104/104a; Sachadae, 11.01.2017, jurisPR-ArbR 2/2017 Anm. 6; Hohmann in Wiegand/Hohmann, SchwbVWO, Rn. 61 der Einleitung unter Hinweis auf stän­di­ge Rechtsprechung des BVerwG seit einem halben Jahrhundert ab 1968 für PR-Wahl; Prof. Dr. Brors, HaKo-BetrVG, 5. Auflage 2018, § 19 Rn 15, für BR/SBV-Wahl, und Sachadae, § 4 WO-BetrVG, Rn. 3 m.w.N.

Anfechtung ­ wg. fehlerhafter Wählerliste ohne Einspruch?

Verfasst: Samstag 9. März 2019, 10:15
von albin.göbel
­
NACHTRAG
zur Fehleinschätzung des ­ LAG Nürnberg
wg. Verlust der Anfechtungsberechtigung

Ablehnend zu Recht auch Matthias Liebsch vom "Zentrum für Sozialforschung" in Halle Fachbeitrag B1-2019 auf reha-recht.de mit zahlreichen Nachweisen ­ für die SBV-Wahl zur Anfechtung wegen falscher Wäh­ler­lis­te. Wenn jemand anficht wegen falscher Wäh­ler­lis­te beim ArbG, ­­ ohne vorher ­­ förmlich Ein­spruch eingelegt zu haben beim Wahl­vor­stand, so hat das entgegen LAG Nürn­berg bzw. Einzelmeinungen im Schrifttum grundsätzlich nichts mit rechts­miss­bräuch­lichem Verhalten ­ oder gar "Arglist" zu tun nach höchstrichterlicher ­­ Rechtsprechung (so z.B. 3 verschiedene BVerwG-Senate, zuletzt BVerwG, 21.07.2009, 1 WB 18.08, Rn 30 am Ende, wonach zentraler Schutz­zweck der Wahlanfechtungsnorm "die im allgemeinen Interesse" liegende Über­prü­fung der Ordnungsmäßigkeit der Wahl ist)

Zur vermeintlichen ­­ Verwirkung vgl auch den wahlrechtlichen "Hinweis" des ­­ LAG München, 27.09.2005, 8 TaBV 29/05 am Ende entsprechend, wonach das An­fech­tungs­recht weit über die Interessen eines Einzelnen hinausgeht – hier wie dort.

Viele Grüße
Albin Göbel