Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

albarracin_01
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Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von albarracin_01 »

Guten Tag,
Gibt es Quellen, die diese These stützen?
ich habe es seinerzeit (ca. 2005) so in Seminaren gelernt in ausdrücklicher Ablehnung der Entscheidung des BVerwG vom 8.12.1999 - 6 P 11.98. Es entspricht auch dem Umgang mit derartigen juristischen Formulierungen, den ich in meinem (nicht abgeschlossenem) Studium vermittelt bekam.

Düwell in LPK-SGB IX, § 177 Rn 45 gibt zu, daß das "oder" eigentlich so zu lesen ist, macht dann aber eine gedankliche Volte zum angeblichen Kontext
"Zwar enthält der Wortlaut des Abs. 1 Satz 4 für die Zusammenfassung gleichstufiger Dienststellen nicht die Voraussetzung, dass diese räumlich nahe beieinanderliegen. Das Erfordernis ergibt sich jedoch aus dem Kontext..." (Fettung von mir)
und bezieht sich dann auf die o.a. Rechtsprechung.

Aus meiner Sicht ist das nicht überzeugend.
&Tschüß
Wolfgang
Ulrich.Römer

Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von Ulrich.Römer »

Hallo zusammen,
das "oder" bezieht sich nur auf die Differenzierung zwischen privaten Arbeitgebern und dem Öffentlichen Dienst. Räumliche Nähe ist bei beiden gleich erforderlich.
- siehe BIH - Wahlbroschüre auf Seite 24; 63) Cramer, SchwbG, § 24 Rn. 4; Ernst/ Adlhoch/ Seel, SGB IX, 17. Lieferung, § 94 Rn. 46; Neumann/Pahlen/ Majerski-Pahlen, SGB IX, 12. Auflage, § 94 Rn. 10

In Frage stellen könnten man aktuell allerdings tatsächlich, was räumliche Nähe bedeutet. Durch Corona haben wir alle Erfahrungen, dass das digital auch über weitere Distanzen als bei 1 h Reisezeit funktioniert!
CVedder
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Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von CVedder »

Hallo zusammen,

es zeigt sich, solche Beiträge und Diskussionen lohnen sich. Fazit für das Thema der räumlichen Nähe bzw. Entfernung ist: Das Wahlrecht muss dringend den Realitäten angepasst werden und aus der Steinzeitecke hervor kommen. Digitale Formate können auch bei Wahlen ein erfolgreiches Mittel sein. Also warum ändert der Gesetzgeber nicht das vereinfachte Verfahren und lässt eine Wahlversammlung per Videokonferenz zu? Natürlich müssen dann die Details wie Teilnehmerliste, Nachweis des Teilnahmerechts, Geheimhaltung,.... pragmatisch gelöst werden.


Grüße
Christian Vedder
Heidi Stuffer
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Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von Heidi Stuffer »

Ulrich.Römer hat geschrieben: Dienstag 23. Februar 2021, 17:26 Räumliche Nähe ist bei beiden gleich ...
Völlig richtig: Hier darf man nicht am Wortlaut „kleben“, da sonst sinnfreie bzw. unsinnige Ergebnisse. So auch BIH-Wahlbroschüre, Seite 24, wie schon erwähnt - mit Verweis auf den Regelungszweck und auf Dr. Cramer, Adlhoch und Dr. Pahlen in Endnote 63). Ebenso Prof. Düwell sowie Dr. Großmann und Hohmann. MR a. D. Cramer war damals maßgeblicher Referent für‘s Schwerbehindertenrecht im BMAS, den albarracin ignoriert.

Demnach räumliche Nähe auch bei Dienststellen sowie bei Gerichten zwingende Voraussetzung lt. BVerwG. Dass sich einzelne Referenten von Seminaranbietern (früher) mal so locker über die Auslegung des BVerwG und der ganz h.M. hinwegsetzten und Teilnehmer solcher Seminare das noch heute unkritisch nachplappern erscheint abenteuerlich.

Beste Grüße
Heidi Stuffer
Spoler
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Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von Spoler »

Ich verweise mal auf eine "aktuelle" :) Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 07.04.2004, 7 ABR 42/03.
Dort wird entschieden, dass weit auseinanderliegende Betriebsteile bei einer Entfernung von 60 km und mehr als
1,5 Std. Fahrtzeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln gegeben sind.
Würde man das "fortspinnen", so hängt die räumliche Nähe wohl vom Streckennetz der Dt. Bahn AG ab :)

Freundliche Grüße
Heidi Stuffer
Beiträge: 129
Registriert: Dienstag 5. September 2017, 12:26

Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von Heidi Stuffer »

albarracin hat geschrieben: Dienstag 23. Februar 2021, 12:16 ich habe es (ca. 2005) so in Seminaren gelernt in ausdrücklicher Ablehnung der Entscheidung des BVerwG vom 8.12.1999 - 6 P 11.98. Es entspricht auch dem Umgang mit derartigen juristischen Formulierungen, den ich in meinem (nicht abgeschlossenem) Stu­dium vermittelt bekam.
Hallo albarracin,

das mag schon sein. Auslegung von Rechtstexten ist Thema im ersten Semester. Danach gibt’s bekanntlich nicht nur eine einzige gängige jur. Auslegungsmethode, sondern mehrere Auslegungen. Hier haben die Rechtsgelehrten, Richter und Ministerialräte a.D. laut Kontext bzw. teleologisch ausgelegt, orientiert an dem Sinn und Zweck der Norm, und eben nicht grammatisch streng nach Wortlaut. Dies offenbar deswegen, damit nicht nur bei Betrieben, sondern auch in Dienststellen und Gerichten der Charakter als örtlicher SBV nicht verloren geht durch Zusammenfassungen für die Wahl nach § 177 Abs. 1 Satz 4 SGB IX. Die Gegenansicht wäre reine Willkür, völlig sinnbefreit und kompletter Unsinn, der durch nichts zu rechtfertigen wäre. Selbstverständlich auch nicht ableitbar aus der späteren BAG-Rspr. zu der „räumlichen Nähe“ bei Behörden. Eine buchstabengetreue Anwendung der Norm würde dazu führen, dass der vom Gesetz verfolgte Zweck in_sein genaues Gegenteil verkehrt würde. Demnach den Seminaranbieter evt wechseln, weil Auslegung geradezu „unterirdisch“.

Das ist nicht „gedankliche Volte“ – sondern professionelle Auslegung gemäß der ju­ris­tischen Methodenlehre und der höchstrichterlichen Rspr. Solche „flotten Sprüche“ helfen nicht weiter und können niemals eine korrekte ju­ris­tische Auslegung ersetzen. Aus welchem (vernünftigen) Grund sollte Gesetzgeber eine solche Differenzierung zwischen Betrieben und Behörden wollen – trotz völlig identischer Interessenlage? Siehe Kurzeinführung in die juristische Methodenlehre der Uni Würzburg. Daher bei Behörden und_Gerichten räumliche Nähe für Zusammenfassung zwingend nötig. Der krasse Fehlbeschluss des OVG Niedersachsen vom 15.07.1998 – 18 L 4560/96, wurde demnach zu Recht vom BVerwG aufgehoben. Diesem Ergebnis hat sich der beteiligte Oberbundesanwalt zu Recht_angeschlossen, wonach räumliche Nähe nötig. Ebenso auch amtliches BIH-Lexikon zur SchwbVWO.

albarracin hat geschrieben: Montag 22. Februar 2021, 18:28 bei Dienststellen derselben Verwaltungsstufe ist gem. § 177 Abs. 1 Satz 4 keine räumliche Nähe notwendig, sprachlich deutlich erkennbar durch das Wort "oder" im Gesetzestext.
Dieser exklusiven haltlosen Einzelmeinung ist energisch zu widersprechen. Solche Thesen ins Forum zu schreiben, die entgegenstehende h.M. einfach hier zu “verschweigen“ und damit zu „suggerieren“, als gäbe es sie nicht, kann ich nicht nachvollziehen. So werden mitlesende Einsteiger nur in die Irre geführt und verunsichert. Ich kenne keinen Kommentar, welcher diese wirklich schräge Ansicht für den öffentlichen Dienst auch nur ansatzweise teilt - entgegen BIH-Experten (Adlhoch), BAG-Experten (Düwell) sowie BMAS-Experten (Dr. Cramer). Die „richterliche Gesetzesauslegung“ wird bestimmt durch die allgemeinen Auslegungsregeln nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn und Zweck des Gesetzes – also nicht allein und zwingend nach bloßer sprachlicher Formulierung, die den „Charakter als örtlicher SBV“ ignoriert für Behörden als auch für Gerichte im letzten Halbsatz.

Hätte dem Gesetzgeber die Rechtsprechung des BVerwG von 1999 für Behörden sowie Gerichte zum SchwbG nicht gepasst, dann hätte er in Kenntnis dieses Beschlusses das SGB IX anders gefasst. Hat er aber nicht – nicht beim SGB IX von 2001 und nicht beim BTHG 2016. Also entsprach die Auslegung des Bundesverwaltungsgerichtes schon damals der Ansicht und dem Willen des historischen Gesetzgebers. Und daran hat sich offensichtlich bis heute nichts geändert, wäre zudem reine Willkür, weil die Differenzierung sachlich durch nichts zu rechtfertigen wäre. Dem Gesetzgeber kann keine willkürliche Normierung, allenfalls missverständliche Normierung unterstellt werden für Behörden und Gerichte.

Beste Grüße
Heidi Stuffer
frankmueller
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Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von frankmueller »

Sehr geehrter Herr Römer, liebe Mitlesende,
ich möchte folgende Konstellation zur Diskussion stellen. Der Arbeitgeber legt in A-Dorf drei Betriebe zu einem Wahlkreis gem. § 177 Absatz 1 Satz 4 SGB IX zusammen. In einem Betrieb gibt es einen Betriebsrat in den anderen beiden Betrieben nicht. Darf hier der Betriebsrat für diesen zusammengefassten Wahlkreis eine Wahl initiieren obwohl er formal für die beiden anderen Betrieb nicht zuständig ist.

Was ist wenn ich als Gesamtschwerbehindertenvertretung nicht drei Wahlberechtigte aus möglichst allen drei Betrieben finde? Es kann ja durchaus vorkommen, dass der Arbeitgeber Betriebe zusammenfasst wo derzeit noch keine schwerbehinderten Menschen beschäftigt werden?

Viele Grüße Frank
Heidi Stuffer
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Registriert: Dienstag 5. September 2017, 12:26

Initiierung der Wahl bei Zusammenfassung

Beitrag von Heidi Stuffer »

Darf hier der BR für diesen zusammengefassten Wahlkreis eine Wahl initiieren, obwohl er für die beiden anderen Betriebe nicht zuständig ist?
Hallo Frank,

dazu ist dieser örtliche Betriebsrat nicht befugt, weil ja nicht für die anderen zwei Betriebe gewählt (wurde). Daher dürfte Regelungslücke bspw. in § 19 Abs. 2 SchwbVWO bestehen, weil nur auf einen Betrieb zugeschnitten und nicht etwa auf mehrere (alle) zusammengefassten Betriebe – so als gäbe es diese Konstellation nicht.

Einladungsbefugt sind bspw. drei sbM (ob die aus einem oder aus mehreren dieser zusammengefassten Betriebe kommen ist wahlrechtlich egal) – sowie m.E. GBR analog § 19 Abs. 2 SchwbVWO. Dazu stehen auch dem GBR die Verzeichnisse der Namen sbM zu (vergleiche dazu grund­legend LAG Ba-Wü, Beschluss vom 20.05.2022, 12 TaBV 4/21, Rn. 58, zur Initiierung einer SBV-Wahl sinngemäß).

Verständnisfrage: Gibt‘s in dem erweiterten Wahlbezirk - in einem der drei Betriebe - derzeit örtliche SBV? Gibt‘s einen GBR im dortigen Unternehmen?

Beste Grüße
Heidi Stuffer
frankmueller
Beiträge: 2
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Re: Bestellung eines Wahlvorstandes durch Gesamt-SBV nicht zulässig

Beitrag von frankmueller »

Hallo Heidi,

leider habe ich Deine Antwort erst eben mitbekommen da ich den Benachrichtigungshaken nicht gesetzt hatte :-(
In dem zusammengefassten Wahlkreis ist derzeit keine örtl. SBV vorhanden. Derzeit bin ich als Gesamt-SBV zuständig. Das ist ja mein Problem.
In der Vergangenheit habe ich (widerrechtlich) zu einer Wahlversammlung einberufen (ich habe ja auch das Sb-Verzeichnis) und damit eine örtl. SBV wählen lassen. Dies ist mir ja nun verwehrt. Das nun der GBR dieses Recht haben soll und die Gesamt-SBV nicht, dem kann ich mich nicht so richtig anschließen :-)
Aus Erfahrung weiß ich, dass sich oftmals gerade nicht drei Wahlberechtigte finden um eine Wahl zu imitieren und wenn dann keine Wahl zustande kommt ist wieder automatisch die Gesamt-SBV (von Flensburg-München) zuständig...

Viele Grüße

Frank
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