»Betriebsintegrierte Außenarbeitsplätze (BiAP)«
ruth.esser hat geschrieben:Haben auch Beschäftigte einer Behindertenwerkstatt (in Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber FSU Jena) ein Wahlrecht?
Hallo zusammen, kann die zwei pauschalen Antworten zu der Frage 1, welche auf die BIH-Wahlbroschüre 2018 verweisen, nicht nachvollziehen lt. Rspr. und Literatur.
Diese höchstrichterlich noch nicht geklärte spannende
Rechtsfrage ist umstritten, soweit es um ausgelagerte Arbeitsplätze, also idR. den betriebsintegrierten Gruppen- bzw. Einzelarbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt geht. Die betriebsintegrierten
Außenarbeitsplätze haben eine gewisse Scharnierfunktion für eine Übernahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, da sie Betrieb und Beschäftigten ermöglichen, die Leistungsfähigkeit unter
"normalen" betrieblichen Bedingungen incl. Zusammenarbeit mit Stammpersonal kennenzulernen. Gewollt ist, dass dort Bedingungen herrschen, die im allgemeinen Arbeitsmarkt
üblich sind nach dem Fachschrifttum, dokumentiert im
Web mit zahlreichen
Praxisbeispielen einer Zusammenarbeit zwischen den Menschen mit und ohne SB in Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes. Ausgelagert seien gemäß § 219
Absatz 1 SGB IX aktuell über 15.000 Arbeitsplätze, d.h. 5 Prozent aller WfbM-Beschäftigten, darunter Hamburg und Bremen mit jeweils über 10 Prozent ihrer WfbM-Beschäftigten (ISB-Forschungsbericht 2008,
FB383-2008, 53).
Das
BAG, Beschluss vom 17.12.2014, 7 ABR 53/14, hat die Rechtsbeschwerde (BMW München) eingestellt gegen
LAG München, 28.05.2014, 8 TaBV 34/12, allein aus rein formal-prozessualen Gründen wegen Ablauf der SBV-Wahlperiode 2014, ohne in der Sache zu entscheiden. Fachbeitrag dazu von Prof. Dr. Kohte auf
reha-recht.de und Adlhoch, Beitrag Vertrauenspersonen fragen – Behindertenrecht, br 3/2017, Seite 63, mit Beispielen. Danach können nicht „pauschal“
Werkverträge oder Dienstverträge unterstellt werden, so aber wohl BIH-Wahlbroschüre
S. 17,
37/38 für zeitweilige oder dauerhafte „Beschäftigung“ auf ausgelagerten Einzel- bzw. Gruppenarbeitsplätzen in Betrieben oder Dienststellen. Immerhin spricht
§ 5 Abs. 4 Satz 1 WVO ausdrücklich von „Beschäftigung“ auf „Arbeitsplätzen“
(BiAP).
BIH, Seite 37/38 hat geschrieben:Nicht wahlberechtigt sind … wenn Werkstattbeschftigte auf ausgelagerten Arbeitsplätzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden .… Durch die zeitweise Beschäftigung auf einem ausgelagerten Arbeitsplatz wird die Verantwortlichkeit der Werkstatt gegenüber dem Beschäftigten nicht eingeschränkt …
Die nicht begründbare und viel zu pauschale apodiktische BIH-Ansicht ist strikt abzulehnen: Es kann jedenfalls nicht unterstellt werden, wonach das alles per Werkvertrag oder Dienstvertrag erfolge
Diese BIH-Kriterien sind weder zwingend noch relevant laut
§ 177 Abs. 2 SGB IX sowie
§ 1 Abs. 2 SchwbVWO für das Wahlrecht laut h.M.
Das
LAG München hat leider nicht näher untersucht, ob es sich tatsächlich um bloße Werkverträge handelt für die 123 Beschäftigten aus WfbM, wie ja behauptet, oder aber um Beschäftigung i.S.d. § 177 Absatz 2 SGB IX n.F. Laut einer
Definition von Dr. Sachadae, Seite 170 / 171, werde vom wahlrechtlichen Beschäftigungsbegriff umfasst, soweit jmd.
"persönlich abhängige, fremdbestimmte Dienste zu erbringen" habe – zentrales Merkmal und Abgrenzungskriterien des wahlrechtlichen Beschäftigungsbegriffs wie folgt:
Dr. Sachadae hat geschrieben:Im Sinne des § 94 SGB IX beschäftigt ist, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags, auf Grund eines freiwillig eingegangenen Sonderstatusverhältnisses oder auf Grund eines diesen beiden Formen gleichgestellten Rechtsverhältnisses verpflichtet ist, persönlich abhängige, fremdbestimmte Dienste zu erbringen. (Dissertation 2013, Seite 171) rehadat-forschung.de
Bundesarbeitsgericht
Laut
BAG vom 27.06.2001, 7 ABR 50/99,
Rn 22, ist u.U.
"Beschäftigung von Rehabilitanden sogar ausreichend zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht" (§ 158 Abs
3 SGB IX)
• wobei "ohne sonstige Voraussetzungen" nach einhelliger Auffassung im Schrifttum sämtliche im Betrieb beschäftigten sbM wahlberechtigt sind (Rn.
17 m.w.N.), und
• "aus Gründen demokrat. Legitimation" angezeigt ist, Rehabilitanden das aktive
Wahlrecht zuzuerkennen zu dem Organ, welches ihre besonderen Interessen im Betrieb wahrzunehmen hat (Rn.
24*),
• sowie ua. § 5 Abs. 4 WVO wortwörtlich von ➔
"Beschäftigung auf ausgelagerten Arbeitsplätzen" spricht. Für mich laut alledem nicht plausibel, warum das generell keine Beschäftigung lt. § 177 Abs 2 SGB IX bzw § 1 Abs.
2 SchwbVWO sein soll - so aber BIH-Wahlbroschüre Seite 17/37 (pauschal).
Übergangsgruppe
Das
insbesondere dann, "wenn sie quasi wie Leiharbeiter" eingebunden sind (vgl.
Ritz, Gutachten zur "Teilhabe von Menschen mit wesentlichen Behinderungen am Arbeitsmarkt" 2015, in Abschnitt 4.5 WfbM-Außenarbeitsplätze, S. 40), wenn es um eine Übergangsgruppe geht i.S.d. § 5 Absatz
4 WVO (privilegiert laut § 158 Absatz
3 SGB IX) bzw wenn es sich um Einzelarbeitsplätze handelt. Denn diese sind nicht nur "räumlich" in den Betrieb, sondern auch organisatorisch in die Betriebsabläufe bzw. „
Arbeits- und Produktionsabläufe eingebunden“ nach dem
Konzept der Außenarbeitsplätze (so zu Recht
Adlhoch, "Vertrauenspersonen fragen", Behindertenrecht,
br 3/2017, 63, mit Beispielen sowie mit Verweis auf Ernst/Adlhoch/Seel, SGB IX, Rn. 29 zu § 94 a.F.) Der Ansicht der BIH-Wahlbroschüre, dass auch diese im Verzeichnis zur Ausgleichsabgabe namentlich eingetragen Beschäftigten (pauschal) nicht als Beschäftigte i.S.d. SBV-Wahlrechts anzusehen seien, steht klar die h.M. laut Rspr. und Literatur entgegen.
Für
aktives Wahlrecht daher grds. Krämer/Gün, in: FKS-SGB IX, 4. Auflage 2018, § 177 Rn. 26, für schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte, welche auf sogenannten Außenarbeitsplätzen nach § 219 Abs. 1 Satz
5 SGB IX in einem anderen Betrieb oder einer Dienststelle beschäftigt sind;
a.A. BIH-Wahlbroschüre, Seite 17/37, die ein aktives SBV-Wahlrecht wohl von vornherein ganz pauschal und apodiktisch ablehnt. ABER: Bei dieser Rechtsfrage ist auch bedeutsam, dass die Beschäftigten aus WfbM auf diesen sog.
Außenarbeitsplätzen des allgemeinen ersten Arbeitsmarktes
"in der Regel in den Arbeitsprozess beim
jeweiligen Betriebsinhaber integriert sind"
Fachschrifttum (BiAP)
So Prof. Dr.
Kohte/Ritz, FKS-SGB IX, § 219 Rn. 13; ebenso Kohte, Beitrag B17-2014 m.w.N. auf
reha-recht.de; ebenso Adlhoch,
br 3/2017, Seite 63/64; ebenso Prof.
Düwell, Wahl der Schwerbehindertenvertretung 2018, Kap 1.2.
7, zu verbreiteten Fehlern durch Verkennung der Wahlberechtigung*);
HaKo-BetrVG § 32 Rn
10, zu aus WfbM ausgelagerten Arbeitsplätzen
(Betriebsintegrierte Beschäftigung); ferner
LPK-SGB IX, § 177 Rn. 13, unter Verweis auf
LAG München, Grundsatzbeschluss vom 28.05.2014, Az: 8 TaBV 34/12, und
GK-SGB IX/
Wendt, Rn. 34 zu §
136 a.F, wonach es auf ein Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber bzw. auf den Status als WfbM-Angehöriger nicht ankomme, und das Wahlrecht sofort und nicht erst nach drei Monaten einsetze.
Ausschlusskriterien?
• Auch stehe
nicht zwingend dem entgegen, dass es in der WfbM den gewählten
Werkstattrat gibt nach § 222 Abs.
2 SGB IX, weil nicht gesetzliches Ausschlusskriterium für SBV-Wahlen im Einsatzbetrieb oder Dienststelle laut Wortlaut des § 177 Abs.
2 SGB IX, und nach "ministerieller" Definition in § 1 Absatz
2 SchwbVWO. In dem Sinne auch
BAG 16.04.2003, 7 ABR 27/02, für SBV-Wahl für Rehabilitanden (unter Aufhebung des
ArbG Mannheim in einer Sprungrechtsbeschwerde).
Viel zu eng folglich die rein formale Sicht, dass es in der WfbM einen Werkstattrat für die Werkstattbeschäftigten gebe laut WMVO. Denn dieser hat ohnehin keinerlei Beteiligungsrechte, soweit es um (konkrete) Beschäftigungs-Modalitäten außerhalb der WfbM auf Arbeitsplätzen in anderen Unternehmem gemäß deren Vorgaben geht. Alles andere wäre sonst eine durch nichts zu rechtfertigende (wahlrechtliche) Benachteiligung dieser Rehabilitanden ggü. sb Leiharbeitern, welche dort gleichfalls wie diese (gemeinsam) betriebsintegriert eingesetzt sind. Zudem behalten beide ihren Status: Der eine als Werkstattbeschäftigter, der andere als Arbeitnehmer des Verleihers.
• Es stehe
nicht zwingend entgegen, dass Fachpersonal der Werkstatt bei der Einarbeitung im Betrieb und auch im weiteren Verlauf die benötigte (individuelle) Unterstützung gebe bzw. i.d.R. „partiell-zeitlich“ betreue; gleichwohl unterliegen sie den Bedingungen des ersten Arbeitsmarktes „
weitestgehend eigenständig“, wie andere; eine "ständige" Vor-Ort-Betreung finde dort regelmäßig durch die WfbM nicht statt laut
LAG:WfbM Thüringen 2013, Seite 11/12.
LAG:WfbM Thüringen hat geschrieben:Bei Außenarbeitsplätzen wird
regelmäßig keine ständige Vor-Ort-Betreuung von Fachpersonal, jedoch regelmäßige Gespräche und Abstimmung durch Fachpersonal mit den Menschen mit Behinderungen und den Partnerunernehmen gestaltet. Einzelarbeitsplätze erfordern und verlangen von den tätigen Menschen mit Behinderungen neben fachlicher Kompetenz auch ein hohes Maß an Sozialkompetenz, da sie
den Bedingungen des Arbeitsmarktes weitestgehend eigenständig unterliegen. WfbM schließen dazu mit ihren Partnern Vereinbarungen ab, die die Rahmenbedingungen vereinbaren.
• Sollte
Schell, SGB IX, § 55 Rz. 47, mit seiner (missverständlichen) Online-Kommentierung, wonach ein sbM
"erst mit der Begründung des Arbeitsverhältnisses mit dem Arbeitgeber ... wahlberechtigt zu der Schwerbehindertenvertretung" sei, gemeint haben, dass das aktive SBV-Wahlrecht ein Arbeitsverhältnis voraussetze, so wäre das "kapitaler Fehlgriff" bzw. Verkennung des Beschäftigtenbegriffs nach § 177 SGB IX: Dieses ist
eben nicht Voraussetzung, um wählen zu dürfen – laut allg. Ansicht und ständiger Rechtsprechung – zuletzt
BAG vom 25.10.2017, 7 ABR 2/16, B I 2 b aa. Diese BMAS-Kommentierung von Schell erscheint zudem höchst
kontraproduktiv, was den Erfolg des Budgets für Arbeit betrifft, dem ja vielfach solche Außenarbeitsplätze vorgelagert sind.
rolf.gollnick hat geschrieben: Dies gilt auch, wenn die Werkstattbeschäftigten auf ausgelagerten Arbeitsplätzen in Betrieben des allgemeinen ersten Arbeitsmarktes beschäftigt werden. Sie sind in diesem Fall zwar räumlich in den Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes eingegliedert, behalten aber ihren Status als WfbM-Beschäftigte.
Rechtsvergleich
Daraus lässt sich m.E.
zwingend nichts gegen das SBV-Wahlrecht ableiten: Der WfbM-Status steht grds. so wenig dem SBV-Wahlrecht im Einsatzbetrieb entgegen wie die Tatsache, dass ein als Leiharbeitnehmer eingesetzter Beschäftigter im Einsatzbetrieb seinen Rechts-Status als Arbeitnehmer des Verleihers beibehält und dennoch sofort wahlberechtigt wird für die SBV in seinem Entleiherbetrieb.
Arbeitsabläufe / Produktionsabläufe
Das Arbeiten in einem solchen Unternehmen vermittelt berufliche Realität. Die dort Beschäftigten bleiben zwar Beschäftigte der WfbM, sind aber „in die Arbeits- und Produktionsabläufe der Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes eingebunden“
laut frax.de
Kann daher nicht die Ansicht teilen von
Ulrich Römer und
Rolf Gollnick und der BIH zur Frage 1 zum akt. Wahlrecht. Zuständig für das
Betriebsverhältnis ist die SBV, und für‘s Grundverhältnis der Werkstattrat. Die BIH-Wahlbroschüre, Seite 17, 37/38, die akt. Wahlrecht pauschal ablehnt, dabei aber übersieht, dass diese Beschäftigten aus WfbM auf ausgelagerten Arbeitsplätzen des allgemeinen ersten Arbeitsmarkts
"in der Regel in den Arbeitsprozess beim jeweiligen Betriebsinhaber integriert sind" (so Prof. Dr.
Kohte, FKS-SGB IX, § 219 Rn. 13; ebenso Kohte, Fachbeitrag B17-2014 m.w.N. auf
reha-recht.de; ferner Adlhoch, br 3/2017, Seite 63/64). Die nächste Auflage der BIH-Wahlbroschüren sollten daher auch in diesem Punkt kritisch hinterfragt und bereinigt werden, aber auch der nachfolgend beschriebene offensichtliche Redaktionsfehler - da anfechtungsrelevant.
„Noch Fragen?“
Entgegen der
viel zu engen BIH-Ansicht in
ZB info 1 I 2018, Seite 6, zur Organisation der Wahl, sind laut h.M. nicht nur schwerbehinderte Leiharbeitnehmer, welche
„länger als drei Monate“ im Entleiherbetrieb eingesetzt werden, wahlberechtigt – da es solche Einschränkung nicht gibt für SBV-Wahlen laut § 177
Abs. 2 SGB IX: In diesem Absatz 2 steht nichts von drei Monaten. Dieser offensichtliche Fehler führt in die Irre und sollte unbedingt mal von BIH bereinigt werden
Kennt evt. jemand dazu noch weitere Literatur pro oder contra, oder anhängige Anfechtungen wegen "fehlerhafter Wählerliste" bzw. wegen dieser sog. „betriebsintegrierten“ Beschäftigung“ von sbM.
Viele Grüße
Albin Göbel
_________
*) Düwell, Wahl der SBV, Kapitel 1.2.7:
"So werden von der SBV auch vertreten: die in den Betriebsablauf eingegliederten schwerbehinderten Rehabilitanden der WfbM, die auf ausgelagerten Arbeitsplätzen (sog. „Betriebsintegrierte Beschäftigung“) tätig sind;22"